Wilde Rose der Prärie
nicht zu wissen schien, was er tun sollte. „Vielleicht ist es auch noch hungrig."
„Verdammt", überlegte Holt. „Die Leute müssen es hier versteckt haben." Behutsam schob Rafe einen Finger unter die durchnässte Windel und spähte hinein. „Wir können aufhören, den Kleinen als ,es' zu bezeichnen", erklärte er. „Wir haben einen Jungen vor uns."
Für Holt bedeutete der Fund des Säuglings eine Menge. Zugegeben, es mussten Tote beerdigt werden, was eine unerfreuliche Aufgabe darstellte. Aber hier war der Beweis, dass das Leben immer einen Weg fand, sich zu behaupten. Der Junge erinnerte ihn an eine Wildblume, die er einmal in Arizona gesehen hatte. Sie wuchs mitten auf einem flachen Stein und schien sich nichts daraus zu machen, dass das eigentlich völlig unmöglich war.
„Was sollen wir mit ihm machen?", wollte Rafe wissen. Es war eine berechtigte Frage, wenn man sich erst einmal klargemacht hatte, dass sie den Jungen mindestens bis in die nächste Stadt bringen mussten. Er brauchte etwas zu essen und eine frische Windel.
„In zwei Tagen sollten wir Laredo erreicht haben", gab Holt zu bedenken. „Vielleicht hat er ja dort Verwandte."
„Vielleicht auch nicht", gab Rafe ernst zurück und deutete auf das Haus. „Es ist alles verbrannt. Wir kennen nicht mal den Namen der Familie."
„In Laredo müsste es irgendwelche Unterlagen über dieses Grundstück geben, ein Dokument, eine Urkunde - etwas in der Art. Unsere Aufgabe ist es, den Jungen nach Laredo zu bringen. Die Behörden werden sich um den Rest kümmern." Rafe legte den Säugling zurück ins Stroh, nahm sein Halstuch ab und löste die Sicherheitsnadel, mit der die Windel zusammengehalten wurde. Er benahm sich recht ungelenk, aber seine Versuche waren von Erfolg gekrönt, was Holt sehr beeindruckte.
„Vielleicht hat die Mutter ja einen Brief oder eine Nachricht hinterlassen", überlegte er und ärgerte sich, dass er seinem Bruder nicht unter die Arme greifen konnte. Während Rafe den Säugling an sich drückte, machte er eine skeptische Miene. „Ich glaube nicht, dass sie dafür noch Zeit hatte. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es hier vielleicht hätte ablaufen können, wären wir früher hergekommen." Holt nickte. „Ich auch nicht." Dann legte er die Stirn in Falten. „Was glaubst du, warum sie die beiden Mädchen nicht auch hier versteckt hat?"
„Wahrscheinlich waren die zwei so verängstigt, dass sie keine Ruhe geben wollten. Hätten sie weiter geweint, dann wären die Rothäute darauf aufmerksam geworden und hätten diesen Schuppen auf den Kopf gestellt."
Trotz dieser möglichen Erklärung war Holt verwundert. „Die Frau muss damit gerechnet haben, dass jemand herkommt. Sonst wäre der Junge verdurstet und verhungert."
Rafe war sich da nicht so sicher und entgegnete bedrückt: „Ich weiß nicht, ob sie das wirklich bedacht hat. Es ist ja nicht so, als würden diese roten Teufel eine Ankündigung schicken, wann sie vorbeikommen und Siedler massakrieren wollen. Oh Gott, ich wünschte, wir wären ein oder zwei Stunden früher unterwegs gewesen."
Holt legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders. „Das waren wir aber nicht. Mit der Tatsache müssen wir uns abfinden, und selbst wenn, gäbe es keine Garantie, dass wir sie von ihrem Treiben hätten abhalten können. Nach den Spuren da draußen zu urteilen, müssen das mindestens drei Dutzend Männer gewesen sein."
„Komantschen?", fragte Rafe. Manchmal wurden solche Überfälle den Indianern in die Schuhe geschoben, obwohl die Täter in Wahrheit Weiße waren, die mit jemandem eine Rechnung zu begleichen hatten. Pfeile konnte man problemlos beschaffen - selbst ein Schuljunge konnte einen Pfeil herstellen -, und jeder kaltblütige Bastard mit einem Messer in der Hand konnte sein Opfer skalpieren. „Vermutlich ja", sagte Holt. „Die Pferde waren nicht beschlagen." Sie gingen nach draußen in den unerbittlichen Sonnenschein. Holt hatte alle Schaufeln mitgenommen, die er im Schuppen finden konnte. Rafe folgte ihm mit dem Säugling in den Armen. Das Feuer stand kurz vor dem Erlöschen, da es keine neue Nahrung mehr fand. Dennoch würde es noch Stunden dauern, bevor sie gefahrlos die verbrannten Leichen herausholen und angemessen bestatten konnten. John war auf dem Weg zum Schauplatz des Massakers und vielleicht noch eine Viertelmeile entfernt. Die Pferde und der Wagen wirbelten eine große Staubwolke auf. Captain Jack hatte sie beide fast erreicht und kniff die Augen zusammen.
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