Wilde Rose der Prärie
wissen, als hinge davon ab, ob sie das Kind in die Arme nehmen würde.
„Keine Ahnung", antwortete Rafe.
Der Junge zog an einer von Rafes dunklen, verschwitzten Locken. Lorelei sah zu Holt, ihre Blicke trafen sich, und es kostete sie viel Mühe, sich von seinen Augen zu lösen, um stattdessen die Umgebung zu betrachten, die sie zu ignorieren versucht hatte. Nun erkannte sie die Konturen eines Mannes unter einer der Decken, die der Captain vorhin geholt hatte. Die Zahl der Gräber und die Art, wie einige der Cowboys in die ausgebrannte Hütte starrten und dann entsetzt den Kopf schüttelten, verrieten ihr, dass sich hier etwas Erschütterndes abgespielt hatte. Ein gallebitterer Geschmack stieg in ihrer Kehle auf und brannte wie Säure. Sie musste schlucken und sich zwingen, sich nicht zu übergeben. „Er braucht aber einen Namen", beharrte unterdessen Tillie und wurde ein wenig lauter. Das Baby begann plötzlich zu schreien, doch es waren seltsame, verzerrte Laute, die aus seinem Mund kamen. „Jeder muss einen Namen haben."
„Dann such du einen aus", sagte Rafe.
„Pearl", entschied sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Niemand wollte etwas dagegen einwenden.
Melina ging zu Rafe und streckte die Arme aus. „Er ist hungrig. Ich werde ihm etwas Zuckerwasser geben, und ich werde nach einer Möglichkeit suchen, ihn gegen die Sonne abzuschirmen. Sonst wird die Hitze ihn umbringen." Rafe zögerte kurz, doch dann übergab er ihr den Säugling, stand auf und streckte sich, und schließlich griff er nach Holts Schaufel. Der hielt den Stiel einen Moment lang fest umklammert, lenkte dann aber ein.
Mit dem Hut in beiden Händen stellte sich Holt zu Lorelei. „Das hier hat wenig mit dem Leben zu tun, an das Sie gewöhnt sind, nicht wahr?" Weder sein Tonfall noch seine Miene hatten etwas Herablassendes an sich, vielmehr sprach er bloß eine beklagenswerte Tatsache aus.
„Ja", erwiderte sie tonlos und dachte an die Teepartys, die sie in San Antonio besucht hatte, bevor der Wohltätigkeitsverein sie aus ihrem Kreis ausschloss. Sie dachte an die weichen, glatten Laken auf ihrem Bett im Haus des Richters. Die meiste Zeit hatte sie damit verbracht, zu lesen, zu nähen oder auf dem Spinett zu spielen. Ihre bis dahin schwerste Entscheidung war es gewesen, welchen Hut sie tragen sollte, wenn sie einkaufen ging, und was Angelina zum Abendessen zubereiten sollte. „Hat es hier ein ... ein Massaker gegeben?"
Holt hätte ihr vorhalten können, dass die Antwort auf ihre Frage doch wohl offensichtlich war, aber er tat es nicht. Stattdessen legte er eine Hand in den Nacken und stieß einen Seufzer aus.
„Vier Menschen sind tot", sagte er ohne Umschweife. „Eine Frau und zwei kleine Mädchen in der Hütte, und da unter der Decke liegt der Familienvater." Lorelei schloss die Augen. Die Hitze, die von der ausgebrannten Hütte ausging, war erdrückend und wirkte so, als hätte sich ein Riss in der Erde aufgetan und die Hölle selbst wäre an die Oberfläche gekommen. Der Gestank war noch immer intensiv genug, dass sich ihr der Magen umdrehte. Dazu das Geräusch der Schaufeln, die in der Erde auf Steine stießen ...
Sie schauderte, und auf einmal spürte sie Holts Hände auf ihren Schultern. Als sie die Augen aufschlug, war sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Seine Haut war von den Jahren unter freiem Himmel gebräunt, und ihr fiel auf, dass seine Gesichtszüge deutlich härter geworden waren, seit sie sich am Morgen auf den Weg gemacht hatten.
„In gut zwei Tagen erreichen wir Laredo", ließ er sie wissen. „Vielleicht haben Sie inzwischen genug gesehen, um zu glauben, dass das Leben in San Antonio doch nicht so schlecht ist, auch wenn Ihr Vater dort das Kommando führt." Sie blinzelte. „Ich kann nicht zurück."
„Ich weiß, Sie hatten Streit mit ihm. Aber er ist Ihr Vater. Er wird Sie wieder bei sich aufnehmen."
„Ich möchte nicht aufgenommen werden!", platzte Lorelei heraus. „Ich war in seinem Haus sicher, ich hatte alles, was ich brauchte, und das meiste von dem, was ich wollte. Aber ich habe nicht gelebt! Ich habe nur meine Zeit abgesessen und darauf gewartet, dass sich die Dinge ändern, dass irgendetwas geschieht. Dorthin werde ich nicht zurückgehen!"
Holts Kiefermuskeln zuckten, und der Griff um ihre Schultern wurde fester. „Vielleicht möchten Sie ja einen Blick unter diese Decke dort werfen, damit Ihnen die Entscheidung leichterfällt", knurrte er sie an. „Das hier ist
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