Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
und da rissen die vollen Wolken auf wie Lehm, und einfallendes Sonnenlicht überflutete in prächtigen Säulenbündeln die Weide. Ein herrlicher Anblick.
    Ich trat vors Haus. Die ganze Erde war wie mit kleinen, harten Zuckerkörnchen bestreut, jedes einzelne fest am andern hängend, als wolle es sich gegen das Schmelzen wehren. Aber als die Uhr drei schlug, war der Schnee schon fast ganz geschmolzen. Der Boden war durchnässt, und gegen Abend hüllte die Sonne die Weide in sanftes Licht. Vögel begannen zu zwitschern, wie befreit.
    * * *
    Nach dem Abendessen lieh ich mir aus Rattes Zimmer ein Buch mit dem Titel Brotbacken leicht gemacht , dazu den Roman von Conrad, setzte mich im Wohnzimmer aufs Sofa und las. Ich hatte ungefähr ein Drittel des Romans gelesen, als ich auf einen etwa zehn mal zehn Zentimeter großen Zeitungsausschnitt stieß, den Ratte als Lesezeichen eingelegt hatte. Das Datum war nicht vermerkt, aber von der Farbe des Papiers her musste er aus einer jüngeren Ausgabe stammen. Es ging um Lokalnachrichten. In einem Hotel in Sapporo sei ein Symposium zu Problemen der Überalterung der Gesellschaft eröffnet worden, in der Nähe von Asahikawa werde ein Langstrecken-Staffellauf ausgetragen, etc. Daneben wurde auf eine Vortragsveranstaltung zur Krise im Mittleren Osten hingewiesen. Nichts, rein nichts war dabei, was Ratte oder auch mich hätte interessieren können. Auf der Rückseite standen Annoncen. Ich gähnte, klappte das Buch zu, ging in die Küche und wärmte mir einen Rest Kaffee auf.
    Nachdem ich nach langer Zeit mal wieder ein Stück Zeitung in der Hand gehabt hatte, fiel mir erst auf, dass ich seit über einer Woche so gut wie von der Welt abgeschnitten war. Ich hatte weder Radio noch Fernsehen, keine Zeitung, keine Zeitschriften. Möglicherweise wurde Tokyo gerade von einer Atombombe zerstört, oder in der Unterwelt herrschte die Pest. Vielleicht hatten auch die Marsmenschen Australien besetzt. Wenn, würde ich es jedenfalls nicht erfahren. Ich hätte in die Garage gehen und Autoradio hören können, aber es drängte mich gar nicht dazu. Wenn es auch ohne Nachrichten ging, bestand kein Anlass, mir welche zu beschaffen, und Sorgen hatte ich selbst schon genug.
    Aber mein Gefühl sagte mir, dass da noch irgendetwas war. Ein Gefühl, wie man es hat, wenn man in Gedanken ist und etwas nicht richtig wahrnimmt, obwohl es gleich unter der Nase an einem vorüberhuscht. Und dann brennt sich umso fester ins Gedächtnis, dass da etwas vorübergehuscht ist. Ich stellte meine Tasse in die Spüle, ging ins Wohnzimmer zurück und sah mir den Zeitungsausschnitt noch einmal an. Da war es, was ich suchte, auf der Rückseite:
     
    Ratte, bitte melden!
    Dringend!!
    Dolphin Hotel, Zimmer 406
    Ich legte den Ausschnitt ins Buch zurück und ließ mich in die Polster sinken.
    Ratte hatte gewusst, dass ich ihn suchte! Frage: Wie war er an den Zeitungsausschnitt gekommen? Hatte er die Annonce zufällig gesehen, als er im Tal war? Oder hatte er etwas gesucht und zielstrebig die Zeitungen mehrerer Wochen durchgesehen?
    Wie auch immer – er hatte sich jedenfalls nicht gemeldet. (Vielleicht war ich auch schon nicht mehr im Delfin gewesen, als ihm die Annonce in die Hände fiel. Oder aber er wollte sich melden, und das Telefon war schon tot.)
    Nein, nein. Es war nicht so, dass er sich nicht hätte melden können: Er hatte sich nicht melden wollen . Er wusste, dass ich im Hotel Delfin war, und konnte sich ausrechnen, dass ich hierher kommen würde. Wenn er mich hätte treffen wollen, hätte er gewartet oder zumindest eine Nachricht dagelassen.
    Ratte hatte also aus irgendeinem Grund vermeiden wollen, mich zu sehen. Gleichzeitig aber stieß er mich auch nicht zurück. Denn wenn er mich nicht hätte hier haben wollen, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, mich auf die eine oder andere Weise zurückzuhalten. Schließlich gehörte das Haus hier ihm.
    Ich beobachtete, diese beiden Theoreme im Kopfe hin- und herwälzend, wie der große Zeiger der Uhr langsam über das Zifferblatt kroch. Aber auch nachdem er seine Runde vollendet hatte, war mir nicht klar, was diese beiden Sätze verband.
    Der Schafsmann wusste etwas. So viel war klar. Dieselbe Person, die mein Kommen so genau bemerkt und verfolgt hatte, konnte unmöglich Ratte nicht kennen, der fast ein halbes Jahr hier verbracht hatte.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto stärker wurde mein Eindruck, dass sich im Verhalten des Schafsmanns der Wille Rattes widerspiegelte.

Weitere Kostenlose Bücher