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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Der Schafsmann hatte meine Freundin zurück ins Tal gejagt, damit ich alleine sei. Sein Auftauchen war Vorbote dessen, was sich hier langsam aber sicher über mir zusammenbraute. Ruhe vor dem Sturm.
    Ich löschte das Licht, ging nach oben und betrachtete den Mond, den Schnee und die Weide. Zwischen den Wolken lugten kalt die Sterne hervor. Ich öffnete das Fenster und sog den Geruch der Nacht in mich auf. Von fern her mischte sich unter das Rascheln der Blätter Geheul, ein merkwürdiges Geheul – nicht wie Tiere heulen und nicht wie Vögel kreischen.
    So ging der siebte Tag auf dem Berg zu Ende.
    * * *
    Aufstehen, joggen, duschen, frühstücken. Ein Morgen wie jeder andere. Der Himmel war bewölkt wie am Tage zuvor, aber es war etwas wärmer. Es sah nicht nach Schnee aus.
    Ich zog Jeans und Pullover an, darüber meinen Anorak, schlüpfte in leichte Turnschuhe und überquerte die Weide. Ungefähr da, wo der Schafsmann verschwunden war, schlug ich mich am Ostrand in den Wald und wanderte ein bisschen umher. Es gab weder einen richtigen Weg, noch waren menschliche Fußspuren zu sehen. Vereinzelt lagen umgestürzte alte Birken quer. Der Boden war eben, aber hier und da von einem etwa einen Meter breiten Graben durchzogen. Wie ein trockenes Bachbett oder ein alter Schützengraben schlängelte er sich kilometerlang durch den Wald, mal tiefer, mal flacher, knöcheltief mit welkem Laub gefüllt. Der Graben mündete schließlich auf einen Grat, dessen sanfte Hänge zu beiden Seiten in trockene Senken übergingen. Ein laubfarbener, plumper Vogel fuhr raschelnd auf, kreuzte den Weg und verschwand am Hang im Gebüsch. Feuerrote Azaleen säumten den Waldrand.
    Nach kaum einer Wegstunde hatte ich bereits völlig meinen Orientierungssinn verloren. So würde ich den Schafsmann nie finden. Ich lief die trockene Senke entlang, bis ich Wasserrauschen hörte, dann, als ich den Bach entdeckte, dort entlang, immer mit der Strömung. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, musste ich so auf den Wasserfall stoßen, und in der Nähe des Wasserfalls verlief der Weg, den ich auf dem Hinweg mit meiner Freundin genommen hatte.
    Nach zehn Minuten Fußweg hörte ich den Wasserfall. Der Bergbach sprang von Fels zu Fels, stets die Richtung ändernd, hier und da eiskalte Tümpel bildend. Fische waren nicht zu sehen; auf den Tümpeln kreisten träge ein paar welke Blätter.
    Ich balancierte von Vorsprung zu Vorsprung die Felsen hinab, kletterte einen glitschigen Hang hinauf und stieß auf den Weg, den ich kannte.
    Auf der Brücke saß der Schafsmann und sah zu mir herüber. Er hatte einen großen Leinensack voll Brennholz geschultert.
    »Mach nur weiter so, dann hat der Bär sein Opfer«, sagte er. »Einer hat sich hierher verirrt. Hab gestern Nachmittag Spuren gesehen. Wenn du unbedingt rumlaufen willst, häng dir wenigstens ein Glöckchen um, wie ich.« Der Schafsmann brachte ein Glöckchen zum Klingeln, das in Hüfthöhe mit einer Sicherheitsnadel an seinem Kostüm festgesteckt war.
    »Ich hab dich gesucht«, sagte ich, als ich wieder bei Atem war.
    »Weiß ich«, sagte der Schafsmann. »Hab dich suchen sehen.«
    »Warum hast du denn nicht gerufen?«
    »Dachte, du willst mich allein finden, deshalb.«
    Der Schafsmann zog die Zigaretten aus der Ärmeltasche und steckte sich genüsslich eine an. Ich setzte mich neben ihn.
    »Hier in der Gegend wohnst du?«
    »Ja«, sagte der Schafsmann. »Sag das aber keinem. Weiß nämlich niemand.«
    »Außer meinem Freund, oder?«
    Schweigen.
    »Das ist ganz wichtig.«
    Schweigen.
    »Wenn du ein Freund von meinem Freund wärst, wären wir beide auch Freunde, nicht?«
    »Denke, ja«, sagte der Schafsmann vorsichtig. »Dann schon.«
    »Und wenn du mein Freund wärst, würdest du mich nicht anlügen, oder?«
    »Nein«, sagte der Schafsmann verlegen.
    »Willst du mir nicht sagen, was du weißt, von Freund zu Freund?«
    Der Schafsmann leckte sich über die trockenen Lippen. »Kann ich nich. Tut mir furchtbar leid, aber geht nich. Ich darf nich.«
    »Jemand hat dich verdonnert, still zu sein?«
    Der Schafsmann versank in Schweigen wie eine Auster. Durch die kahlen Bäume pfiff der Wind.
    »Wir sind ganz allein«, sagte ich behutsam. »Niemand kann uns hören.«
    Der Schafsmann sah mir in die Augen. »Du hast keine Ahnung von dieser Gegend, nich?«
    »Nicht die geringste.«
    »Hör zu, das ist kein Platz wie jeder andere. Das wenigstens merk dir.«
    »Neulich hast du noch gesagt, hier wär es schön.«
    »Für

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