Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
Nähe hatte ihm diesmal schöne Träume verschafft, anstatt ihn seiner Ruhe zu berauben. Nachdem er sich angezogen hatte, trat er gähnend ins Wohnzimmer, um festzustellen, daß seine Frau bereits auf und in ihr anonymes Tuareg-Gewand gekleidet war, wobei sie allerdings das Gesicht noch nicht verschleiert hatte. So wie sie da auf dem Diwan in dem schwarzen Gewand hockte und das schwarze Tuch ihr blasses Gesicht umrahmte, wirkte sie wie eine mittelalterliche Nonne. Ein ketzerischer Gedanke: Nonnen sollten niemals solche Energie geschweige denn eine solche Sinnlichkeit ausstrahlen. Ohne etwas von seinen unfeinen Gedanken zu ahnen, fragte sie: »Brauchen wir für den heutigen Tag einen Plan?«
Ross dachte darüber nach - er war, gerade aufgewacht, noch nicht in Hochform, und es gab nur eine Sache, die er am frühen Morgen wirklich gut konnte. Aber ohne weibliche Mitarbeit war es nicht möglich, diese hervorragende Fähigkeit zu demonstrieren.
Er riß sich von diesem Thema los und konzentrierte sich auf die Frage. »Ich hoffe, ich kann so bald wie möglich mit Abdul Samut Khan reden. Abgesehen davon, daß ich mehr über Ian erfahren will, möchte ich gerne herausfinden, ob ich Gast oder Gefangener bin.« »Wahrscheinlich ein bißchen von beidem.« »Das vermute ich auch, aber du solltest eigentlich ohne Schwierigkeiten aus- und eingehen können.« Er machte eine Pause, während er im Geiste durchging, was getan werden mußte. »Ich möchte, daß du Saleh und Murad besuchst und nachsiehst, ob bei den beiden alles in Ordnung ist. Sprich erst einmal mit Saleh, bevor du Reza mitnimmst, aber ich denke, je eher der Junge aus meiner Gefahrenzone wegkommt, desto besser.«
»Soll ich Pferde kaufen?« schlug sie vor. »Die Kamele sind nicht besonders gut für die Stadt geeignet.«
»Gute Idee. Dann bring die Kamele zu Hussayn Kasem. Er sagte, er hätte einen Stall für uns, und wenn wir die Tiere nicht mehr brauchen, werden sie es gut bei ihm haben.« Er holte seinen Koffer und öffnete ihn. »Ich glaube, jetzt ist eine gute Zeit, um dir die verschiedenen Geschenke, Zaumzeuge und Waffen zu zeigen, die ich mitgebracht habe.«
»Gut.« Juliet schwang die Füße auf den Boden. »Jedesmal, wenn du in deinem Gepäck wühlst, bin ich gespannt, welche Schätze du nun wieder hervorziehst.«
»Die Kunst, erfolgreich zu reisen, hat viel mit dem eigenen Vorrat an Geschenken zu tun«, erklärte er. »Ich denke, ich entwaffne Abdul Samut Khan, indem ich ihm einen meiner Kompasse schenke und ihm erkläre, wie er funktioniert. Wenn er dann nämlich mein Gepäck durchsuchen läßt, wird er nicht glauben, ein Kompaß wäre ein gefährliches Instrument zum Spionieren.«
Ross zeigte Juliet alles, was nützlich sein konnte, falls ihm etwas zustieß, und hatte ihr soeben ein kleines Säckchen voll Goldmünzen in die Hand gedrückt, als es an der Tür klopfte. Nachdem Juliet den Beutel in ihrem Gewand verstaut hatte, ging sie hinüber und öffnete die Tür, vor der ein Junge stand. Er lud den ehrenhaften Lord Kilburn höflich ein, das Frühstück mit Abdul Samut Khan einzunehmen.
Ross, der froh war, daß der Nawab gewillt war, in dieser Frühe mit ihm zu reden, folgte dem Jungen zu den Privatquartieren, wo sein Gastgeber ihn freundlich begrüßte.
Ross erwiderte den Gruß, setzte sich im Schneidersitz an den Tisch und präsentierte dem Nawab dann die zwei Geschenke, die er ausgewählt hatte. Das erste war eine arabische Übersetzung von »Robinson Crusoe«, welche sich als unglaublich beliebt in der ganzen islamischen Welt herausgestellt hatte. Da der Koran stets im arabischen Original studiert wurde, konnte jeder gelehrte Moslem die Sprache fließend lesen, und Abdul Samut Khan nahm das Buch mit großer Freude.
Dann reichte ihm Ross den Kompaß, ein schimmerndes Messinginstrument von ausgezeichneter Handarbeit. »Vielleicht findet Ihr dies hier interessant.«
Der Nawab untersuchte das Glas, die Reflektoren und Schrauben mit neugierigem Blick, während Ross ihm die Funktion erklärte. »Und es zeigt immer nach Norden, sagt Ihr?« Er drehte das Gerät hin und her, wobei er fasziniert auf die Nadel starrte.
»Exakt«, antwortete Ross. »Es kann dazu benutzt werden, die Richtung von Mekka zu bestimmen.«
»Ahhh . . .« Abdul Samut Khan nickte begeistert. »Wahrlich ein heiliges Gerät. Kann ich es von Euch erwerben?«
»Nein, denn es ist ein Geschenk, nur ein kleiner Beweis meiner Dankbarkeit, daß Ihr mich so gastfreundlich in Eurem
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