Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
in dieser Nacht die Karawanen gezogen waren. Shahid würde sich ein paar Männer ausborgen, vom Gefängnis vielleicht weitere. Dann würde er die Tore überprüfen und eventuell den Karawanen in die Wüste hinaus folgen.
Während Shahid sich den Turban um seinen pochenden Schädel wickelte, grinste er in sadistischer Erwartung. Sobald Kilburn erwischt hatte, würde er ihn für die Demütigungen bestrafen, die der verdammte Ferengi ihm verursacht hatte. Es war allgemein bekannt, daß Verbrecher getötet wurden, wenn sie sich der Festnahme widersetzten, und dieses Schicksal würde Kilburn ganz sicher ereilen. Aber der Tuareg-Junge ... Shahid war inzwischen mächtig neugierig, was für zauberhafte Dinge wohl unter den schwarzen Gewändern verborgen waren. Er hatte jede Absicht, es herauszufinden, bevor auch Jalal das Zeitliche segnete.
Bevor Ian sich zu einem weiteren Angriff sammeln konnte, flüsterte Ross eindringlich: »Ian, ich bin's, Ross Carlisle. Verschwende keine Zeit, dich darüber zu wundern, wie es sein kann, sondern akzeptiere einfach, daß ich da bin.«
Sein Schwager stützte sich mühsam in sitzende Position auf und atmete stoßweise, während er den Eindringling anstarrte. »Das ... das kann nicht sein. Du bist nur wieder ein verdammter Traum.
Ein Alptraum. Du siehst ja nicht mal aus wie Ross.«
»Irrtum. Unter dem falschen Bart bin ich so echt wie du.« Ross hielt inne, um sich etwas zu überlegen, was Ian überzeugen konnte. »Weißt du noch, als wir in Indien auf Jagd waren? Wie wütend du warst, als ich den Tiger direkt im Visier hatte und ihn doch habe entkommen lassen?«
»Jesus Christus.« Das verbliebene Auge des anderen Mannes schloß sich einen Moment, dann öffnete er es wieder. Das Grau hatte mehr Blau als Juliets Augen, eine Farbe, die unfehlbar zu Ian gehörte. »Ross?« flüsterte er heiser.
Die Hoffnung und die Verzweiflung in der bebenden Stimme brachen Ross fast das Herz. Grimmig unterdrückte er die Reaktion, denn sie hatten keine Zeit für Gefühle. Er verkniff sich auch, Juliet zu erwähnen, deren Anwesenheit lang Glauben an die Realität zu sehr strapazieren könnte. Leichthin antwortete er also: »Kein anderer. Du kannst deiner Mutter danken, die deinen Tod nicht akzeptieren wollte. Aber wir müssen beide jetzt raus hier, bevor man sich wundert, was wir so lange hier unten machen.«
Er schob einen Arm unter Ians Schulter und half ihm auf die Füße. »Ich gebe mich als königlicher Kämmerer aus -du mußt nur den Mund halten und so tun, als würdest du mich nicht kennen.« »Warte. Muß das hier mitnehmen.« Ian beugte sich herunter und nahm einen eckigen Gegenstand auf, der in Lumpen gewickelt war. Unter dem Stoff kam ein kleines, ledergebundenes Buch mit kyrillischen Buchstaben zum Vorschein. Ian stopfte es in seine Hose und erklärte: »Pyotr Andreyovichs Bibel. Hab' versprochen, sie seiner Familie zu schicken, wenn ... wenn ich jemals hier rauskomme.« Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich, und er begann zu zittern. ,
Ohne sich um Ians dreckigen Zustand zu kümmern, legte Ross einen Arm um ihn, weil er hoffte, die Berührung konnte den Mann aus dem Zustand der absoluten Verzweiflung reißen. »Du wirst hier rauskommen, das schwöre ich«, versprach er sanft. »Komm einfach mit, und in ein paar Minuten bist du frei. Nicht außer Gefahr, aber frei.«
Als das Zittern ein wenig nachließ, schob Ross ihm das Seil unter die Arme und brüllte auf Usbekisch hinauf: »Zieht ihn hoch, ihr Hundesöhne! Und habt keine Angst. Der wird euch nichts tun.«
Das Seil straffte sich, dann hob es Ian in die Luft. Eine Minute später wurde er auf festen Boden gezogen.
Ross war allein in dem Schwarzen Brunnen. Obwohl er wußte, daß es nur eine Illusion war, hatte er den Eindruck, als würden die Wände zusammenrücken. Finster schalt er sich, kein Idiot zu sein, doch als ein schwaches Rascheln hinter ihm erklang, wirbelte er herum, wobei seine Fackel groteske Schatten an die Mauern warf. Was, wenn der Leutnant die Täuschung entdeckte und ihn hier unten ließ? Wie lange würde es dauern, bis die Fak-kel herunterbrannte und ihn den Dämonen der Finsternis überließ? Heftig biß er sich auf die Lippe, um mit dem Schmerz die aufsteigende Furcht zu bekämpfen, aber die Sekunde der Panik reichte aus, um ihm klarzumachen, was ein Gefangener hier unten auszuhalten hatte. Ian hatte einmal mehr seine gewaltige Kraft unter Beweis gestellt.
Plötzlich fiel das Seil wieder herunter, und es war
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