Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
sich mit kontrollierter Langsamkeit in den Kerker hinunter. Die Wände waren glitschig, und der Gestank, der oben schon schlimm gewesen war, schlug ihm mit unbeschreiblicher Intensität entgegen.
Sechs Meter konnten eine lange Strecke sein, aber endlich hatte er den Grund erreicht, und er stürzte fast, als seine Füße auf dem rutschigen Stein ausglitten. Der Kerker war knapp drei Quadratmeter groß, doch er war mit soviel undefinierbarem Dreck und Unrat übersät, daß es einige Zeit dauerte, die lange, zerlumpte Gestalt, die an einer Wand lag, als menschlich zu identifizieren. Ross brachte die Fackel näher heran. Der Mann hatte verfilztes dunkles Kopf- und Barthaar und hatte einen Arm über die Augen gelegt, wahrscheinlich, um sie vor dem ungewohnten Licht zu schützen. Er trug nur eine zerfledderte, europäische Hose. Unter dem Dreck war seine Haut kränklich weiß, und sein Körper war so dürr, daß jede einzelne Rippe hervortrat. Offene schwärende Wunden übersäten seine Haut, die wahrscheinlich von den extra gezüchteten Zecken stammten.
Hätte er nicht eben den Fluch aus dem Loch gehört, wäre Ross sicher gewesen, eine Leiche vor sich zu haben.
Er kniete sich neben den Gefangenen und sprach leise und beruhigend auf Französisch auf ihn ein, was ein gebildeter Russe verstehen würde, die Männer oben aber nicht. »Ich bin ein Freund, und ich will Sie hier rausholen. Glauben Sie, Sie können gehen? Dann kann ich Ihnen besser helfen.«
Plötzlich rollte sich der Gefangene herum und schlug mit überraschender Kraft nach Ross. Verdutzt sprang dieser auf die Füße und wich zurück, um dem Angriff zu entgehen. Dann sog er scharf die Luft ein.
Das Gesicht des Gefangenen war dreckig und ausgezehrt, und er hatte ein Auge verloren, denn sein rechtes Lid hing reglos über einer leichten Vertiefung. Aber es war nicht das Aussehen, das Ross das Blut in den Adern gefrieren ließ. Viel schockierender war die Tatsache, daß der Mann plötzlich mit einem schwachen schottischen Akzent fluchte: »Du wirst mich nicht noch mal reinlegen, du verdammter Hurensohn.«
Der Gefangene, der dort auf dem Kerkerboden lag, war Ian Cameron.
Jawer Shahid Mahmud war oftmals versichert worden, er habe einen Kopf wie ein Fels, und er bewies es, indem er weniger als eine Stunde später nach dem Angriff wieder erwachte. Die Stallknechte hatten ihn ins Haus gebracht, so daß er in seinem eigenen Quartier wieder zu sich kam. Als seine Augen flatternd aufflogen, blieb der Jawer noch einen Moment still liegen und versuchte, seine Erinnerungen zu ordnen. Die Taverne, ein tadschikischer junger Tänzer mit einem großartigen Hintern, der Ritt nach Hause. Verwirrt hob er die Hand zum Kopf und fand, daß der Schmerz zu stark war, um nur ein Ergebnis von zuviel genossenem Wein zu sein.
Die Ställe .. . was war bei den Ställen geschehen?
Dann erinnerte er sich und setzte sich ruckartig auf, ohne auf den scharfen Schmerz zu achten, der unter seiner Schädeldecke hämmerte. »Verflucht! Die Bastarde sind abgehauen!«
Kurz darauf setzte hektische Geschäftigkeit ein, als zwei Soldaten in die Räume des Ferengis hinaufgelaufen waren. Sie hatten die Tür einschlagen müssen, um zu bestätigen, was Shahid bereits vermutet hatte: Lord Kilburn und sein Tuareg-Sklave waren geflohen.
Es war undenkbar, die beiden mit dieser Beleidigung davonkommen zu lassen - Shahids Ehre stand auf dem Spiel. Wut klärte seinen Kopf, wie nichts anderes es geschafft hätte. Wenn Kilburn in der Stadt untertauchen wollte, dann würde er früher oder später gefunden werden, denn das Netz der Informanten war effektiv, zumal das Aussehen des Ferengis auffällig genug war. Kilburn wußte das natürlich, denn der Mann war alles andere als dumm. Wahrscheinlich würde er sobald als möglich versuchen, die Stadt zu verlassen. Vielleicht war das sogar schon geschehen, denn Sommerkarawanen zogen stets in der kühleren Nacht aus. Eine Verfolgung wurde außerdem dadurch erschwert, daß die meisten Soldaten mit dem Emir die Stadt verlassen hatten. Woher konnte Shahid mehr Truppen bekommen? Vielleicht im königlichen Palast und vielleicht auch im Gefängnis, denn dieser Ort war so sicher, daß kaum Wachen benötigt wurden.
Entschlossen erhob er sich. Er würde sofort zum Palast gehen, denn der Befehlshaber der königlichen Wache war ein Freund von Shahid, und man konnte ihm die Suche nach dem Ferengi innerhalb der Stadt anvertrauen. Dieser würde auch wissen, durch welche Tore
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