Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
der schönste Anblick, den Ross je erlebt hatte. Ein paar Sekunden später war auch er oben und ließ die Fackel in das Loch zurückfallen. Vielleicht würde das Feuer wenigstens ein paar Zecken erledigen. Murad starrte Ian an, der mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte. Als Abschiedsgeschenk hatten die Männer des Emirs ihm die Handgelenke grausam fest zusammengebunden, und Ross stellte fest, daß er in dem helleren Licht noch übler aussah als unten in den finsteren Tiefen. Murad warf ihm nun einen besorgten Blick zu, und Ross wußte genau, was der junge Perser dachte: Wie, bei allen Göttern, sollten sie jemanden in Ians Zustand durch die Karakum bringen?
Das war eine weitere Sache, über die nachzudenken Ross sich im Augenblick weigerte. Brüsk befahl er daher: »Komm. Ich habe hier schon genug Zeit verschwendet.«
Gehorsam wandte sich der Offizier um und führte den Weg hinaus an, während Ross folgte, und Murad und der plumpe Wärter Ian unter den Armen stützten, damit er die enge Treppe hinaufkam. In der Kammer des wachhabenden Beamten fragte der Offizier nach einer Empfangsbestätigung für den Gefangenen, die Ross ungeduldig schrieb. Es schien ihm, als wären sie eine Ewigkeit in dem Gefängnis gewesen, und vor der Dämmerung blieb noch viel zu tun.-
Doch der Hof lag immer noch im Dunkeln, als sie nach draußen gingen, um zu Juliet und den Pferden zu stoßen. Murad half Ian auf das vierte Pferd und rückte ihn im Sattel zurecht, dann schnitt er ihm die Fesseln durch, damit er sich festhalten konnte.
Juliet begann, den Gefangenen anzustarren, sobald sie aus dem Gefängnis kamen, aber bei Gott... sie war nicht in der Lage, Ian als ihren Bruder zu identifizieren. Sie warf Ross einen kurzen Blick zu, der leicht nickte und sich dann auf sein Pferd schwang. Sie ritten, immer noch unbehelligt, hinaus. Nun mußten sie die Stadt durchqueren, bis sie sich in einem leeren Haus etwa eine Stunde darauf vorbereiten konnten, mit der Karawane, die sich zu dieser Zeit sammelte, die Stadt zu verlassen. Zunächst mußten sie allerdings die Sicherheit des Hauses erreichen, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Schweigend ritten sie bis zum Basar und lenkten ihre Pferde unter die Bögen in den Schutz der Überdachung.
Während Murad sich am Eingang postierte, um die Straße zu beobachten, schloß Juliet zu Ross auf. »Ist es wirklich Ian?« flüsterte sie mit angespannter Stimme.
»Definitiv«, versicherte Ross ihr. »Er weiß noch nicht, daß du hier bist. Ich dachte, er könnte vielleicht nicht alles auf einmal verdauen.«
Juliet wollte nicht mehr wissen. Sie trieb ihr Pferd zu ihrem Bruder herüber. »Ian, ich bin's, Juliet«, rief sie leise. Ian war über dem Sattelhorn zusammengesackt, hob bei den Worten aber den Kopf. Die Laterne beleuchtete grausam sein ausgezehrtes Gesicht und das fehlende Auge, doch nach einem kurzen schockierten Moment erhellten sich seine Züge. »Mein Gott, Juliet. Ich hätte mir denken können, daß meine unverbesserliche, kleine Schwester mitmischen mußte.« Überraschenderweise schwang ein Hauch seines alten Humors in seiner heiseren Stimme mit. »Der Schnurrbart steht dir übrigens absolut nicht!«
Lachend und weinend drückte sie ihren Bruder und hätte ihn fast dabei vom Pferd gerissen. Es schien nicht möglich zu sein, daß er wirklich Ian war, nachdem sie so viele Tränen vergossen und Hoffnungen hatte zerschmettern sehen. Er drückte ihr leicht die Schultern, aber sie bekamen nicht viel Zeit für ihre Wiedersehensfreude.
»Wir müssen weiter! Juliet, gib deinem Bruder den Umhang«, wies Ross sie ruhig an.
Juliet wurde sich wieder ihrer Lage bewußt, ließ ihren Bruder los und fischte einen dunklen Mantel aus ihrer Satteltasche. Sie half Ian, ihn anzuziehen und locker um die Hüfte zu gürten, dann wand Ross hastig einen Turban um Ians Kopf und musterte das Ergebnis.
Trocken bemerkte Ian: »Ich denke, ich sehe immer noch furchtbar aus.«
»Stimmt«, gab Ross zu, »aber weniger verdächtig als ein Mann mit nacktem Oberkörper und Haaren und Bart wie ein Eremit aus der Wüste. Es wird reichen, bis wir die Stadt durchquert haben.« Ross wandte sich in Murads Richtung und wollte gerade etwas sagen, als der Perser ihm heftig bedeutete, zu schweigen. Ross stieg ab und kam lautlos zum Bogeneingang, um nachzusehen, was es gab.
Ein halbes Dutzend Soldaten galoppierte auf sie zu, und die Laterne des Anführers zeigte das grimmige Gesicht von Jawer Shahid Mahmud.
Einen
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