Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
kurzer Marsch brachte sie zu der tiefen Schlucht, die sie und ihre Männer für Gewehrübungen nutzten. Es war ein exzellenter natürlicher Schießstand, denn die Konfiguration der Berge erstickte den
Lärm so gründlich, daß man die Schüsse kaum im Dorf oder in der nahen Umgebung vernehmen konnte.
Sie steckte handflächengroße grüne Blätter als Ziele in den Lehmboden am Rand der Schlucht und begann dann zu schießen. In der nächsten halben Stunde verschoß Juliet fast verschwenderisch Munition, wobei sie sich selbst gegenüber versicherte, daß das Risiko der kommenden Reise das beste Training benötigte.
Doch trotz ihrer Konzentration und dem ohrenbetäubenden Widerhall der Schüsse bemerkte sie augenblicklich, als jemand auf leisen Sohlen den steilen Pfad herabkam. Und ebenso schnell identifizierte sie die Person, sowohl vom Schritt als auch von dem winzigen Unterschied, die in Europa hergestellte Stiefel auf Stein und Kies verursachten.
Das Wissen, daß Ross zu ihr kam, ließ einen heißen Strom durch ihren Körper fahren. Da sie keine Ahnung hatte, was sie ihm sagen sollte, feuerte sie weiter Schuß um Schuß, bis die Patronen, die sie in ihrer Hand gehabt hatte, aufgebraucht waren. Als der letzte Schuß verhallte, war die Hälfte ihre Zielblätter zerfetzt. Während sich die Staubwolke über dem letzten Treffer langsam senkte, meinte Ross hinter ihr: »Ich bin äußerst beeindruckt. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so schnell hintereinander so zielsicher treffen sehen.«
»Der Hinterlader macht Schnelligkeit problemlos«, erwiderte Juliet, das neutrale Thema dankbar aufgreifend. Während sie sich umdrehte und ihm die Flinte reichte, erinnerte sie sich daran, daß dies eines war, was sie an Ross immer so gemocht hatte: Er akzeptierte einfach und neidlos ihre Überlegenheit in der traditionell männlichen Kunst des Schießens. Die meisten Männer reagierten auf ihre Reit- und Schießkünste immer so, als wäre es ein persönlicher Angriff auf ihre eifersüchtig gehütete Männlichkeit.
Fachmännisch knickte er nun den Lauf ab und musterte das Gewehr. »Schön. Maßarbeit eines britischen Waffenschmieds, nehme ich an?«
»Ja. Es ist eine Verbesserung des Ferguson-Entwurfs, und es schießt sehr genau. In diesem Teil der Welt bedeutet ein gutes Gewehr das Leben. Willst du es ausprobieren?«
Als er nickte, wühlte Juliet ein halbes Dutzend Patronen aus ihrem Munitionsbeutel und reichte sie ihm. Es gelang ihnen, sich dabei nicht zu berühren, und es war schon erstaunlich, wie perfekt sie zusammenarbeiteten, wenn es galt, Körperkontakt zu vermeiden. Und Ironie des Schicksals: Für sie bedeutete das Angebot, ihre Waffe zu benutzen, eine Intimität, die sie bisher keinem anderen Mann zugestanden hatte.
Ross machte sich erst einmal näher mit der Waffe vertraut, dann zielte er auf eines der verbliebenen Blätter. Als er zu schießen begann, zählte Juliet im Geiste automatisch die Sekunden mit. Er feuerte alle sechs Schuß in etwas weniger als einer Minute, was nicht ganz so schnell wie ihre Zeit war - doch das Blatt war nachher in viele kleine grüne Partikel zerlegt.
»Vielleicht bin ich etwas schneller«, urteilte sie. »Aber du hast die bessere Zielsicherheit.«
»Möglich.« Er gab ihr die Waffe zurück. »Die wahre Kunst besteht allerdings darin, auch im Ernstfall so gut zu schießen. Wenn es wirklich darauf ankommt, versagen die meisten.«
Auf seltsame, fast unmerkliche Art schien Ross sich über Nacht verändert zu haben. Als Juliet sein Gesicht betrachtete, erkannte sie, daß am Tag zuvor eine fragende, herausfordernde Nuance darin zu finden gewesen war, eine Offenheit für mögliche Konsequenzen. Nun war diese Offenheit verschwunden. Er hatte sich seine Meinung über seine abtrünnige Frau gebildet, und was immer er nun empfinden mochte, war hinter einer Mauer der Gefühllosigkeit verborgen, die so undurchdringlich wie Kristall erschien. Seine braunen Augen verrieten weder Wärme noch Zorn, nur die unpersönliche Höflichkeit, die er so gut beherrschte.
Juliet war entschlossen, es ihm in dieser Hinsicht nachzutun, denn es würde für sie beide besser sein. Unglücklicherweise hatte sie starke Zweifel, daß sie damit erfolgreich sein würde, denn ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, war noch nie ihre Stärke gewesen.
Ross lehnte sich nun lässig gegen einen Felsen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sehe ich irgendwie merkwürdig aus, oder hoffst du, ich würde
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