Wilder Als Ein Traum
Lyssandra durch das Schlafzimmer flatterte und die peinliche Stille mit ihrem melodiösen Geplauder ausfüllte, hätte sie dem Mädchen am liebsten über die Schulter gesehen, um zu erforschen, ob es vielleicht Flügel
trug. Sie betastete ihr Amulett und unterdrückte den gemeinen Wunsch nach einer überdimensionalen Fliegenklatsche.
Sie würde niemals wissen, wie sie die ersten dunklen Augenblicke draußen vor der Burg überstanden hatte. Jedes Gramm Rückgrat hatte sie gebraucht, um vom Pferd zu gleiten, ohne dabei in die Knie zu gehen.
Aber sie hatte es geschafft.
Tabitha hatte es sogar geschafft, ein strahlendes Lächeln aufzusetzen und Lyssandra die Hand zu geben, als wolle sie der errötenden zukünftigen Braut versichern, dass sie und Colin sicher sehr glücklich miteinander würden. Falls ihre blutleeren Finger eisig gewesen waren, war Lyssandra zu höflich gewesen für einen Kommentar.
Colin hatte sich elend den Nacken gerieben und verzweifelt nach den richtigen Worten gesucht. Tabitha hätte ihn sicher weiter zappeln lassen, hätte sie nicht befürchtet, er stellte sie vielleicht als seine jüngferliche Tante vor. Also hatte sie ihr Lächeln hundert Watt heller strahlen lassen und fröhlich verkündet, sie wäre Colins Cousine und aus dem entfernten Dorf Gotham zu Besuch.
Unglücklicherweise hatte das die Entdeckung zur Folge gehabt, dass Lyssandras Großmut ihre bezaubernde Schönheit noch bei weitem übertraf. Die samtig braunen Augen des Mädchens hatten Tabithas von dem Ritt fleckiges Kleid und die zerzausten Haare mitleidig gemustert; sie hatte Colin und Arjon für ihre Gedankenlosigkeit gescholten, Tabitha unter ihre jugendlichen Fittiche genommen und sie zwecks einer mittelalterlichen Verschönerungsstunde die Wendeltreppe hinaufgeleitet.
So wurde Tabitha also nicht einmal die Genugtuung zuteil, Colins Verlobte hassen zu können, dachte sie erbittert. Während eines einzigen Nachmittags in ihrer Gesellschaft
hatte sie erkannt, dass vom niedersten Bediensteten, der eilfertig jeden ihrer Wünsche zu erfüllen trachtete, bis hin zu dem plattnasigen Terrier zu ihren Füßen, der jede ihrer Bewegungen mit feuchten, ergebenen Blicken verfolgte, allesamt ihr in Liebe und Treue ergeben waren. Und wenn Lyssandra von allen geliebt wurde, weshalb nicht auch von Colin? hing Tabitha ihren verzweifelten Gedanken nach.
Irgendetwas an dem Mädchen war ihr seltsam vertraut. Ihr fröhliches Geplapper und perlendes Gelächter hatten etwas eigenartig Tröstliches. Vielleicht gehörte sie zu jenen seltenen Menschen, von denen man bereits bei der ersten Begegnung meint, man kenne sie schon eine Ewigkeit. Oder zumindest siebenhundert Jahre.
Während Lyssandra von dem großen Bett zu einer reich verzierten Truhe trippelte, sank Tabitha matt auf einen Hocker. Mit jeder Minute kam sie sich mehr wie Quasimodo vor. Obgleich sie eben erst einem nach Jasmin duftenden Bad entstiegen war, spürte sie bereits, wie sie verwelkte - ähnlich einem unscheinbaren Löwenzahn, der im Schatten einer zu voller Pracht erblühten Rose stand.
Lyssandra warf die Truhe auf, tauchte hinein und schleuderte auf der Suche nach etwas, was Tabitha zu dem Bankett tragen könnte, das MacDuff zu Ehren seines heimgekehrten zukünftigen Schweigersohns ausrichten ließ, Schleier und Gürtel durch die Luft.
Selbst gedämpft verlor Lyssandras Stimme nichts von ihrer Fröhlichkeit. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Colin eine Base hat. Wirklich seltsam, dass er Euch nie erwähnte.«
»Dasselbe könnte ich von dir sagen«, murmelte Tabitha und fragte sich, ob sie trotzdem mit sich weiterleben könnte, wenn sie jetzt auf Zehenspitzen durch den Raum schlich und den Deckel der Truhe zuknallte.
Lyssandra tauchte wieder auf und hielt ihr einen Strauß Haarbänder hin. »Steht Ihr und Colin einander sehr nahe?«
Zumindest letzte Nacht, dachte Tabitha und vor ihrem geistigen Auge tauchten ihre miteinander verschlungenen, vom Mondlicht erhellten Körper auf. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und versuchte zu lächeln. »Man könnte sogar sagen, dass wir einander ungewöhnlich nahe stehen.«
Lyssandra drückte die Haarbänder mit der Dramatik eines liebeskranken Teenagers an ihre Brust. »Immer, wenn Colin auch nur in meine Nähe kommt, habe ich das Gefühl, jeden Augenblick vor Freude ohnmächtig zu werden.« Sie demonstrierte das Gesagte, indem sie sich rücklings in die Truhe fallen ließ. »Ah-ha!«, trällerte sie, als sie sich wie ein
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