Wilder Oleander
Mundpropaganda erst in Studentenkreisen, dann auch allgemein Aufsehen erregt, weil, Wunder o Wunder, bei denjenigen, die sich auf prähistorische Weise ernährten, die überschüssigen Pfunde wie Eis in der Sonne schmolzen.
Die University Press peppte das Buch auf, verpasste ihm einen auffälligen neuen Umschlag und einen neuen Titel, den aus einem der Kapitel, die den Konsumenten ansprachen. Gegenwärtig wurde es vom Ärztekomitee für verantwortungsbewusste Medizin verteufelt, von der Amerikanischen Vereinigung der Kardiologen, vom Papst unter den Chirurgen und dem amerikanischen Gesundheitsministerium, schon weil Ophelia für sie weder eine qualifizierte Diätetikerin war noch einen medizinischen Doktortitel besaß. Ophelia hatte erwidert, dass sie kein Schlankheits-, sondern ein Geschichtsbuch geschrieben hätte. Wenn die Leser es als Anregung für eine gesunde Ernährungsweise benutzten, sei das deren Sache.
Endlich hatte sie ihr Zimmer im Hauptgebäude erreicht, die in verschwenderischem Rokoko eingerichtete Suite Marie Antoinette. Ihr Herz begann heftig zu klopfen.
Die Schachtel im Badezimmer. Der Schwangerschaftstest.
Er machte ihr Angst. Welch Ironie des Schicksals, dass die Schachtel ausgerechnet neben ihren Antibabypillen stand.
Was ist, wenn ich schwanger bin?
Reiß dich zusammen, Ophelia. Du bist stark, du bist eine Kämpferin.
Sie bestellte sich beim Zimmerservice etwas zu essen, nahm eine Dusche, zog sich an und griff schließlich doch zu der Schachtel.
Sie warf einen Blick in den Spiegel. Ihr Körper war gertenschlank, kein Gramm Fett daran. Schlank und stark. Mit einer
Keule in der Hand hätte sie ein Australopithecine auf der Suche nach Nahrung in der Schlucht von Olduvai sein oder es mit Säbeltigern aufnehmen können.
Beim Öffnen der Schachtel zitterten ihre Hände. Ophelia, rief sie sich zur Ordnung, irrationale Befürchtungen sind unangebracht. Wo war ihre wissenschaftliche Objektivität abgeblieben? Wo sie doch zu allererst Wissenschaftlerin war und mit dem gleichen kühlen Kopf wie bei ihren Labortests an die Sache herangehen sollte.
Auf dem beigefügten Zettel stand:
Dieses Produkt kann das Schwangerschaftshormon bereits drei Tage vor der zu erwartenden Periode feststellen. Die Menge des Schwangerschaftshormons ist davon abhängig, wie weit die Schwangerschaft bereits fortgeschritten ist.
Was im Klartext bedeutete, dass bei einem positiven Ergebnis knapp einen Monat nach Ausbleiben der Periode kein Zweifel bestand.
Der Test kann jederzeit durchgeführt werden.
Die Zeit jetzt eignete sich ebenso gut wie jede andere.
Zwei rosa Streifen: schwanger; ein rosa Streifen: nicht schwanger.
War es zu spät, um einen rosa Streifen zu beten?
Ergebnis nach drei Minuten.
Die längsten drei Minuten ihres Lebens.
Ophelia nahm den Teststreifen aus der Umhüllung und las sich die Gebrauchsanweisung durch:
Halten Sie den Teststreifen fünf Sekunden lang in Ihren Urinstrahl. Legen Sie dann den Teststreifen mit der glatten Seite nach oben auf eine ebene Fläche. Die rosa Färbung, die sich daraufhin zur klaren Spitze zieht, zeigt Ihnen an, dass der Test funktioniert. Lesen Sie das Ergebnis nach drei Minuten ab.
Noch nie war Ophelia derart nervös gewesen. Weder als sie der Gemeinde bei ihrer Bar Mizwa aus der Torah vorgelesen
hatte, noch als sie sich darum beworben hatte, bei einem der bedeutendsten Anthropologen in der Welt weiterstudieren zu dürfen, noch beim Rigorosum für ihren Doktortitel. Aber kein Mut der Welt vermochte es mit zwei rosa Streifen aufzunehmen.
Sie schloss die Augen. Der Anruf ihrer Schwester vor fünf Jahren: »
Ophelia, die kleine Sophie krabbelt nicht mehr rum! Sie greift auch nach nichts mehr. Letzte Woche war sie noch so lebhaft, und jetzt …
«
Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Wieder schalt sie sich ob ihrer Panik. Ist doch nur ein lächerlicher chemischer Test, weiter nichts. Stell dir einfach vor, du wärst in einem Labor und machtest eine fluorine Analyse fossiler Knochen. Steck die ionenselektive Elektrode auf das Reagenzglas, führ drei Mal hintereinander Messungen durch, zähl den Fluorgehalt aus, gib die Daten für die statistische Auswertung ein.
Sie streifte den Slip ab, setzte sich breitbeinig auf die Toilette und fing an zu pinkeln. Mit zitternder Hand hielt sie den Teststreifen unter sich …
Und ließ ihn fallen.
In die Toilettenschüssel.
»Nein!«, schrie sie und sprang auf, noch ehe sie fertig war. Entsetzt starrte sie auf den
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