Wilder Oleander
»Aber das sind nur ein paar Management-Probleme.«
Coco sah sie überrascht an. Merkwürdig. Ihre Eingebung hatte ihr etwas ganz anderes gezeigt. Abby Tyler sorgte sich um ein Kind.
Kalte Salate mit Meeresfrüchten standen bereit, eisgekühlter Wein, frisches Brot und süße Butter. Ein Kronleuchter brachte Porzellan und Kristall zum Funkeln, durch die geöffneten Schiebetüren wehten abendliche Blütendüfte herein.
»Erzählen Sie mir doch bitte, wie es sich mit diesem Preisausschreiben verhält«, sagte Coco und griff nach ihrem Glas. »Ich habe mich noch nie an einem beteiligt. Wieso gewinne ich dann diesen umwerfend schönen Urlaub?«
»Der Mann, dem einst dieses Grundstück gehörte, wollte für Leute, die nach Frieden trachten, eine Oase schaffen. Als Philanthrop, der er war, störte er sich allerdings daran, dass The Grove nur Zahlungskräftigen offen stehen sollte. Deshalb rief er eine Art Zufalls-Lotterie ins Leben.«
Sie versuchte, ihren Gast nicht eingehend zu mustern. Hatte Coco die gleichen Augen wie sie, hatte sie die Nase und das Kinn des Herumtreibers? Welche natürliche Haarfarbe verbarg sich unter diesem Burgunderrot?
Sollte eine Mutter nicht instinktiv ihr eigenes Kind erkennen?
Und wie um Himmels willen sollte sie das Thema Eltern und Adoption anschneiden? Wusste Coco überhaupt, dass sie adoptiert worden war?
Abby erkundigte sich, ob es Coco in The Grove gefiel, worauf Coco auf Kenny zu sprechen kam.
»Ja, er ist sehr talentiert«, meinte Abby lediglich, weil sie alles Weitere Kenny überlassen wollte. Abby war bei ihrer Suche nach adoptierten Kindern auf ihn gestoßen. Ihr privater Ermittler verfolgte damals eine Spur, die auf Waisenkinder ausgerichtet war und ihn nach San Francisco geführt hatte. Obwohl Abby wusste, dass ihr Baby ein Mädchen war, hatte sie Kenny ins Herz geschlossen, schon weil er selbst als Baby gestohlen worden war. Nach und nach hatte sie erfahren, dass er von seinen Adoptiveltern abgelehnt worden und von einem Pflegeelternpaar zum nächsten abgeschoben worden war. Daraufhin hatte sie den Entschluss gefasst, ihm zu helfen. Vor allem als sie merkte, wie sehr er unter seiner heimlichen Sucht litt. Er musste geheilt werden, und deshalb hatte sie ihn über Vanessa für The Grove engagiert.
Um nicht neugierig zu erscheinen, stellte sie Coco möglichst unverfängliche Fragen, war aber dennoch darauf aus, sich Klarheit zu verschaffen. Dreiunddreißig Jahre lang hatte sie jeden Geburtstag ihres Kindes gefeiert, hatte sich vorgestellt, wie ihr Töchterchen den ersten Zahn bekam, die ersten Schritte tat, das erste Wort formulierte. Zum ersten Mal in die Schule ging. Und sich ausgemalt, was sie mit dem kleinen Mädchen unternehmen würde, alles Dinge, die das Privileg einer anderen Frau geworden waren.
»Ich habe die Prämie für das Preisausschreiben als Geschenk zu meinem Geburtstag angenommen«, sagte Coco. »Der steht nämlich vor der Tür.«
»Ach ja?«
» 17 .Mai. Ich bin in Fresno geboren.«
Im Bericht des Privatermittlers stand: Weibliches Baby, geboren am 17 .Mai in Amarillo, Texas, verkauft an Familie McCarthy in Fresno, Kalifornien.
»Gibt es weitere Hellseher in Ihrer Familie?«
»Nein. Ich war von Anfang an anders. Von der Minute an, als ich zur Welt kam.«
Abby war mit einem Mal hellwach. »Inwiefern?«
»Ich wurde mit Polydaktylie geboren.« Coco hob die Hände und bewegte die Finger, deutete dann auf zwei winzige seitliche Narben. »Sechs Finger an jeder Hand. Die beiden sechsten wurden bald nach der Geburt entfernt. Stellen Sie sich vor, was für eine Pianistin aus mir hätte werden können!«
Wie hatte sich Mercy damals ausgedrückt? »Ein perfektes Baby. Zehn Finger, zehn Zehen, wir haben nachgezählt.« Coco McCarthy war nicht ihre Tochter.
Kapitel 23
Die Wüstennacht war erfüllt vom Heulen der Kojoten.
Jack, der an der offenen Tür zu seinem Patio stand, fand, dass dieses Heulen wie aus nächster Nähe klang und erkennen ließ, dass die Tiere hungrig und aufgebracht waren.
Er kehrte wieder zu seiner Arbeit zurück.
Jack war ein As in seinem Beruf, in dem es darum ging, Ermittlungen durchzuführen und Fälle zu lösen. Er hatte bereits die eine oder andere Belobigung erhalten, und der Bürgermeister hatte ihm auch schon mal die Hand gedrückt. Wenn die Kollegen nicht mehr weiterwussten, wandten sie sich an ihn. Nur diesmal war Jack derjenige, der nicht mehr weiterwusste.
Ninas Aufzeichnungen verblüfften ihn. Sie schien zu dem
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