Wildes Herz
gleichgültigen Schulterzucken. »Zwei klein gehackte Frösche, die wir unten am Bach gefangen haben, eine Handvoll Haferflocken, einige Messerspitzen vom Boden gekratztes Mehl und noch ein paar Salzblätter. Lässt sich doch gut essen, oder?«
Froschbrot! Éanna schluckte und wünschte, sie hätte nicht gefragt und sich ihre Illusion bewahrt, dass die Brotkuchen aus irgendwelchen gewöhnlichen Essensresten bestanden. »Schon, aber wenn man es nicht weiß, kriegt man es leichter runter!«, gestand sie mit einem schiefen Grinsen.
Die anderen lachten, und Bridget sagte spöttisch: »Dann frag jetzt besser nicht, was wir gestern mit einer Latte in so einem Trümmerhaufen erschlagen und über einem Feuer aufgespießt geröstet haben. Mit dem Froschbrot hast du heute allemal den besseren Tag erwischt, um auf uns zu stoßen!«
»Immerhin, das Fleisch war so weiß wie bei einem Kaninchen«, sagte Caitlin trocken.
Éanna schauderte, konnte es sich dabei doch nur um eine Ratte gehandelt haben, und war froh, dass keiner das Thema weiterverfolgte.
Den letzten Brotkuchen brachte Emily dem Mädchen in den zerfetzten Reetmatten. Doch dieses hob nicht einmal den Kopf, geschweige denn, dass sie die Lippen öffnen konnte. Sie benetzten ihre aufgesprungenen Lippen mit etwas Wasser und deckten sie mit Éannas zerschlissenem Umhang zu. Mehr konnten sie nicht für sie tun.
Bevor sie sich zum Schlafen hinlegten, bat Éanna darum, dass Emily und Bridget noch etwas spielten. Sie hatte so lange keine Musik gehört, dass ihr Wunsch danach größer noch als der Hunger war. Gerne griffen die beiden zu ihren Instrumenten und spielten zwei Lieder. Eines gehörte zu den Balladen, die Éannas Mutter über alles geliebt hatte. Bei den ersten Takten liefen Éanna die Tränen übers Gesicht.
Wie viel war an diesem Tag passiert, so viel, dass es den Schmerz über den Tod ihrer Mutter fast überdeckt hatte. Doch nun – am heruntergebrannten Feuer, die klagenden Flötentöne im Ohr –, da überkam die Trauer Éanna mit einer Macht, dass es sie schier schüttelte.
Wie oft hatte Catherine das Lied auf den Lippen gehabt, früher, als der Vater noch lebte und die Hungersnot noch in weiter Ferne war.
Es hieß A Youth and an Irish Maid und erzählte die Geschichte eines jungen Mannes, der seinem geliebten Mädchen namens Molly eröffnete, dass er nach Amerika auswandern wird. Und auch wenn er dort viele schöne Mädchen träfe, würde er doch immer nur an sie denken.
Lange nachdem der letzte Ton verklungen war, weinte Éanna noch immer, und sie schämte sich nicht dafür. Es war schon spät, als sie sich endlich zu den anderen Mädchen ans Feuer legte und einschlief.
Das fremde Mädchen starb irgendwann in der Nacht, ohne einen Laut von sich zu geben. Ihr Lebenslicht erlöschte so still, wie sie den drei anderen gefolgt war.
Am nächsten Morgen kratzten sie mit Messern, Löffeln und den Zacken durchgebrochener Dachlatten hinter der Ruine so etwas wie eine Mulde aus dem Boden. Für ein richtiges Grab hatten sie weder die Kraft noch die richtigen Gerätschaften. Sie legten die Tote in die Mulde, deckten sie mit Reet zu und beschwerten das Ganze mit Bretterresten und Steinen aus den Trümmern des Hauses.
Gemeinsam sprachen sie das Vaterunser, das Ave Maria und zwei Gebete, die sie alle von würdigeren Begräbnissen her kannten. Und zum Schluss sagte Emily etwas, das so seltsam klang, dass Éanna es nie mehr vergessen sollte.
»Zuerst sterben die Iren, dann die Sterne.«
Dann zogen sie weiter und Éanna mit ihnen. Es war gut, nicht mehr allein zu sein und in Emily so etwas wie eine Freundin gefunden zu haben.
Elftes Kapitel
Neun Tage streiften sie wie verirrte Schafe gemeinsam durch das Land westlich des Shannon River, immer auf der Suche nach Essen und einem trockenen, windgeschützten Platz für die Nacht.
Wann immer sie auf einen zerstörten Hof stießen, bogen sie vom Weg ab und sahen nach, ob sie in der Kate nicht etwas finden konnten, das sich vielleicht irgendwie verwerten ließ. Aber fast immer kehrten sie mit leeren Händen wieder auf den Weg zurück.
Éannas Plan, nach Dublin zu gehen, rückte in weite Ferne. Sie wusste, wie wenig Chancen sie hatte, allein auf der Straße zu überleben, und jeden Tag dankte sie Gott, dass er sie in jener trostlosen Nacht in die verlassene Kate geführt hatte, in der sie Emily, Bridget und Caitlin gefunden hatte.
Die Bettelei in den größeren Siedlungen, durch die sie kamen, brachte trotz der Musik
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