Wildes Herz
Mantel und Schal zu dem von ihnen angebotenen Preis abzugeben, obwohl dieser Kaufpreis ihn angeblich um jeden Profit brächte.
Éanna wusste es besser. »Wenn wir Euch draußen auf dem Bahnhofsplatz mit einer Bettelschale antreffen, werden wir vielleicht anfangen, Euch Glauben zu schenken!«, sagte sie bissig und nahm die sechs Pence entgegen, die ihnen nach dem Einkauf von Mantel und Schal für Brendan noch blieben.
Aber letztlich überwog doch die Freude, dass es gelungen war, mit dem Geld von Patrick O’Brien einen warmen Wollmantel sowie einen dicken Schal für Brendan zu erstehen. Und sie wollte besser nicht an die Armen denken, die in ihrer großen Not diese Sachen hatten versetzen müssen.
»Danke, dass du das für mich getan hast, Éanna«, sagte Brendan, als sie wieder auf der Straße standen und er sich den Schal um den Hals wickelte. »Die meisten hätten an deiner Stelle das Geld für sich behalten und gemacht, dass sie damit davonkommen. Ist ja auch keinem zu verdenken.«
»Erstens bin ich Éanna Sullivan und nicht ›die meisten‹. Und zweitens besteht wirklich kein Grund, dass du so einen Wind darum machst«, wehrte sie schnell ab. »Du hast schließlich deinen Mantel geopfert, um uns beiden zur Flucht zu verhelfen. Und mehr ist dazu auch nicht zu sagen.«
Carlow war nicht nur Endpunkt der Eisenbahnstrecke aus Dublin und eine bedeutende Garnisonsstadt, sondern sie gehörte auch zu den Hochburgen besonders bekehrungssüchtiger Protestanten im Land. Das merkten sie sehr schnell, als sie deren Suppenküche fanden und sich in die wartende Menge einreihten.
So wie Éanna es schon bei den wiedergeborenen Freunden Jesu in Ballinasloe erlebt hatte, so rechthaberisch eifernd und demütigend wurden sie auch von den lutherischen Wohltätern in Carlow behandelt. Auch sie untersagten das Sich-Bekreuzigen vor dem Essen und jegliche Anrufung der Muttergottes und der Heiligen. Sie griffen auch nicht weniger streng und unerbittlich durch als ihre Glaubensbrüder in Ballinasloe. Sowie sie jemanden ertappten, der ihren Anweisungen zuwiderhandelte, musste dieser seinen Platz an den Tischen räumen und den Schuppen der Suppenküche verlassen, ganz gleich, wie elend er auch aussah.
»Da können wir ja von Glück reden, dass heute nicht Freitag ist«, raunte Éanna mit mühsam beherrschtem Zorn, als sie nach zwei Stunden des Wartens mit dem nächsten Schwung Hungerleider eingelassen wurden. »Denn dann hätten sie uns ganz bewusst irgendwelche Fleischreste in die Suppe gemischt, nur um uns zu demütigen!«
»Ich glaube nicht, dass Gott so kleinkrämerisch ist und sich mit solchen lächerlichen Nichtigkeiten beschäftigt, während wir Iren vor Hunger wie die Fliegen krepieren«, sagte Brendan nachdenklich, während sie an den Tischen entlanggingen und zu den anderen aufschlossen, die vor ihnen die Bänke füllten. »Er wird schon wissen, dass ich keine andere Wahl und jeden Löffel Essen bitter nötig habe.«
Éanna ließ den Blick quer durch das große Brettergebäude schweifen, das früher als Lagerhalle genutzt worden war. Wie viele doch in diesen Suppenküchen Zuflucht suchen müssen, dachte sie angesichts der Menschenmenge.
Plötzlich blieb ihr Blick am Ausgang auf der anderen Seite hängen. Dort verließen gerade die Hungergestalten, die vor ihnen abgespeist worden waren, den lang gestreckten Schuppen.
Éanna kniff die Augen zusammen. Ein Mädchen in der Menge kam ihr bekannt vor, obwohl sie ihr nur den Rücken zudrehte. Sie reckte sich, um besser sehen zu können. Das Mädchen blickte sich halb um, und Éanna presste sich die Hand auf die Lippen. Das da vorn war Emily!
»Emily!«, rief Éanna ungeachtet des Lärms um sie herum. Sie war außer sich vor Freude, endlich auf ihre verschollene Freundin gestoßen zu sein! Doch im gleichen Moment verschwand das Mädchen schon aus der Tür und damit aus ihrem Blickfeld.
Brendan, der vor ihr ging, drehte sich zu ihr um und warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Da drüben ist Emily Farrell gewesen, von der ich dir erzählt habe!«, rief Éanna ihm aufgeregt zu.
»Wo?« Verwirrt blickte Brendan in die Richtung, in die Éanna deutete.
»Sie war bei denen, die vor uns ihre Suppe bekommen haben, und ist gerade durch die Hintertür hinaus! Ich muss sie unbedingt einholen!«
Éanna wollte sofort hinüber auf die andere Seite, um Emily nachzulaufen. Aber eine der beiden weiblichen Aufpasser, unter deren steifen Hauben die verhärmten Gesichter alter Jungfern saßen,
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