Wildes Herz
von der Pike auf lerne. Deshalb schickt er mich nun schon seit Wochen kreuz und quer durch das Land. Bis Weihnachten muss ich noch auf Reisen bleiben. Und im Januar geht’s dann hinter ein Schreibpult im Kontor – es sei denn, mir fällt bis dahin noch etwas ein, wie sich dieser bittere Kelch abwenden lässt.«
»Ja, wie hart das Brot ist, das Ihr Euch verdienen müsst, sieht man Euch an«, höhnte Brendan. »Sich in einer gepolsterten Kutsche von Taverne zu Taverne durchs Land fahren, sich dabei von vorn bis hinten bedienen zu lassen und Notizbücher vollzukritzeln, das ist ja auch eine entsetzlich aufreibend schwere Arbeit! Ihr müsst wirklich sehr verzweifelt sein, dass Euer reicher Onkel Euch ein so bitteres Schicksal auferlegt hat.«
»Jedes Leiden ist eben immer auch eine Frage der ganz eigenen Perspektive und Lebensvorstellungen, wenn du verstehst, was ich damit sagen will«, erwiderte Patrick O’Brien, und zum ersten Mal klang er ein wenig von oben herab.
Brendan verzog nur geringschätzig den Mund.
Éanna hatte dem kurzen Wortwechsel zwischen Brendan und Patrick O’Brien nur mit halbem Ohr zugehört. Denn ihre Gedanken beschäftigten sich noch immer mit der überraschenden Erklärung von Mr O’Brien, Schriftsteller werden und Bücher schreiben zu wollen. Das kam ihr völlig absurd vor und faszinierte sie doch zugleich auch, weil es ihrem eigenen Leben mit all seinen Nöten so fremd und fern war wie die blendende Sonne dem grauen stumpfen Mond. Denn wenn sie ihn richtig verstanden hatte, machte er sich nichts aus der gesicherten Zukunft, die sein Onkel ihm mit der Übernahme seiner Brauerei bot. Er wollte ein Leben in Sicherheit und Wohlstand ausschlagen! Und das war etwas, das ihre Vorstellungskraft überstieg.
»Und was soll das für ein Buch werden, das Euch wichtiger ist als das, was Euch Euer Onkel zu bieten hat?«, wollte Éanna wissen. »Was schreibt Ihr dafür alles auf?«
»Nun, alles, was ich auf meinen Fahrten sehe und erlebe«, lautete Patrick O’Briens Antwort. »Und das ist in diesen Zeiten nicht eben wenig, wie du dir wohl vorstellen kannst.«
»Dann hoffe ich, dass Ihr auch genug Stifte und Papier dabeihabt, um alles schön aufschreiben zu können! Wie gut es uns faulen Iren wieder geht und wie wunderbar es doch ist, dass die Hungersnot in unserem Land endlich ein Ende gefunden hat!«, sagte Brendan verächtlich.
»Du scheinst mich für einen Engländer zu halten«, erwiderte Patrick O’Brien mit einem Anflug von Gekränktheit. »Aber dem ist nicht so. Auch ich bin Ire.«
Brendan lachte höhnisch auf. »Ihr seid etwas ganz anderes, ganz gewiss! Komm, lass uns gehen, Éanna!« Er zog sie am Arm. »Sonst erreichen wir Carlow nicht mehr vor der Abenddämmerung! Außerdem kann ich dieses dumme Geschwätz nicht länger ertragen!«
»Na dann, viel Glück mit dem Schwarzbier Eures Onkels und mit Eurem Buch, Mr O’Brien«, sagte Éanna, die nicht so unhöflich sein wollte wie Brendan. Sie hatte noch immer das Gefühl, in der Schuld dieses Mannes zu stehen, der sie vor Gefängnis und Verbannung bewahrt hatte. Und im Gegensatz zum letzten Mal, als sein Spott sie nur noch mehr verunsichert und geängstigt hatte, fand sie heute, dass er durchaus anziehend sein konnte. Er hatte Humor und war zudem in der Lage, sich über sich selbst lustig zu machen. Und vor allem gab er ihr nicht das Gefühl, von denkbar niedrigstem Stand und eines derart persönlichen Gespräches nicht wert zu sein.
»Wartet!«, rief Patrick O’Brien, legte sein ledergebundenes Journal rasch aus der Hand und zog seine Geldbörse heraus.
Brendan wandte sich demonstrativ ab und ging einfach weiter. Sein Stolz verbot es ihm, von diesem Kerl auch nur einen Viertelpenny entgegenzunehmen.
Éanna erlaubte sich diesen Stolz nicht und ging sofort zur Kutsche hinüber. Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen, als er ihr vier Shilling in die Hand drückte. Sprachlos blickte sie auf die Münzen.
»Wie heißt dein Freund?«
»Brendan Flynn.«
»Ich weiß nur zu genau, was er von mir hält, und du vermutlich auch. Und sicher glaubt ihr beide, gute Gründe dafür zu haben«, sagte er leise und atmete tief durch. Zum ersten Mal sahen seine Züge ernst aus, der unbeschwerte und spöttische Ausdruck war verschwunden. »Aber die Dinge sind im Leben nicht immer so, wie es den Anschein hat, Éanna Sullivan! Da ist man oft allzu leicht mit seinem Urteil bei der Hand. Aber was rede ich da. Sieh zu, dass du deinen Freund
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