Wildes Herz
durchschlagen? Wahrscheinlich bist du es, die dort das große Glück macht! Am Ende wanderst du noch nach Amerika aus!«
Éanna blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Sie mochte noch so müde sein, Brendan schaffte es jedes Mal, sie zum Lachen zu bringen!
»Sag bloß, du traust mir das nicht zu?« Sie strahlte ihn an. »Aber vielleicht – vielleicht will ich viel lieber mit dir zusammen das große Glück machen?« Sie breitete die Arme aus. »Erst geht es nach Dublin, wo wir einen Haufen Geld verdienen werden. Und dann …« Sie streckte sich auf die Zehenspitzen und wirbelte einmal um die eigene Achse. »Amerika!«, rief sie aus. »Wir kommen!«
»Vorsicht, Éanna!« Brendans erschrockener Aufschrei ließ sie innehalten, doch dann spürte sie auch schon selbst, wie sie wegrutschte. Es knirschte bedrohlich unter ihren Schuhen – ein Klang wie splitterndes Glas, gedämpft von der Schneedecke. Eine Schrecksekunde später folgte dem Knirschen ein lautes, berstendes Geräusch. Augenblicklich gab der trügerisch feste Boden unter ihr nach. Eiskaltes Wasser schoss aus dem Schnee hoch und umspülte ihren Fuß.
Eis!, schoss es ihr mit jähem Entsetzen durch den Kopf. Sie musste auf einen Fluss oder einen See geraten sein, dessen Oberfläche zugefroren war, aber noch keine genügend dicke Eisdecke besaß, um sie zu tragen.
»Bleib, wo du bist! Hier ist Wasser unter der Schneedecke!«, rief sie, riss ihren Fuß aus dem Eisloch und wollte sich in Sicherheit bringen.
Doch sie kam nicht einmal einen Schritt weit. Denn die Risse im Eis weiteten sich blitzschnell unter ihrem Gewicht und ließen die dünne Decke in zahllose einzelne Stücke zerspringen. Dort, wo sie ihren Fuß aufgesetzt hatte, sackten Schnee und Eis unter ihr weg.
Mit einem schrillen Aufschrei, in dem nackte Todesangst lag, verlor Éanna das Gleichgewicht. Sie stürzte mit ausgebreiteten Armen nach vorn. Vergeblich suchte sie nach Halt, und in Sekundenschnelle war sie bis über die Hüften im Wasser versunken. Die Kälte schien ihr wie mit Messern in Beine, Unterleib und Brustkorb zu stechen und raubte ihr im ersten Schreckmoment den Atem. Fast glaubte sie schon, vollends zu versinken, da stießen ihre Füße in der eisigen Tiefe plötzlich auf festen Untergrund.
Brendan hatte sich flach auf den Schnee geworfen.
»Rühr dich nicht von der Stelle!«, rief er und robbte auf sie zu. Dabei zerrte er sich den Beutel von der Schulter und warf ihn ihr mit ausgestrecktem Arm zu, ohne ihn selbst jedoch loszulassen. »Halte dich am Lederriemen fest! Kannst du stehen?«
»Ja!« Éanna konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Diese Kälte – sie tat so weh –, bei Gott, sie tat so fürchterlich weh!
»Bleib ganz ruhig!«, rief er ihr beschwörend zu. »Und verlier um Himmels willen nicht deine Schuhe! Du musst ganz langsam einen Schritt vor den anderen machen, hörst du, Éanna?«
Zitternd ergriff sie den abgewetzten Lederriemen. Das eisige Wasser schwappte ihr bis an die Brust.
»Los!«, befahl er und fing an zu ziehen.
Éanna setzte sich in Bewegung, aber sie kam nicht weit. »Ich kann nicht«, weinte sie, als sie spürte, wie ihre Schuhe im Schlamm stecken blieben und sie festhielten.
»Éanna Sullivan«, sagte Brendan, und seine Stimme wurde streng vor Sorge. »Und wie du kannst! Glaub mir.«
Éanna holte tief Luft und sah nach vorn. Er hatte recht. Einen Fuß setzte sie vor den anderen, langsam und vorsichtig, und schließlich erreichte sie das Ufer.
Hastig streckte Brendan beide Arme aus und zog sie auf den sicheren Boden. Dort kauerte sie triefnass, und ihr kam es so vor, als müsste sie jeden Moment zu einem Eisblock gefrieren.
»Komm hoch«, herrschte er sie an. »Du darfst jetzt hier nicht im Schnee sitzen bleiben! Du musst dich bewegen, Éanna! Wir müssen so schnell wie möglich irgendwo einen Unterschlupf finden und ein Feuer machen, sonst …» Brendan brach ab, zerrte sie auf die Beine und hängte sich hastig den Beutel über.
Éanna konnte ihm nicht antworten. Sie zitterte wie Espenlaub, und ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander.
»Wir müssen zurück«, stieß Brendan hervor, legte sich ihren rechten Arm um die Schulter, damit sie sich auf ihn stützen konnte. Unablässig redete er auf sie ein, während er sie auf den Weg führte, den sie gekommen waren.
»Wir sind doch vorhin an einem verlassenen Unterstand vorbeigekommen. Dort sind wir ganz gut vor dem Wetter geschützt, und ich kann ein Feuer machen. Nur den Hang
Weitere Kostenlose Bücher