Wildes Herz
trat ihr in den Weg. »Bleib gefälligst in deiner Reihe und setz dich an den Tisch, der dir zugewiesen wurde! Hier gibt es keine Sonderplätze!«, herrschte sie Éanna an.
»Aber ich will doch nur . . .«
Weiter kam sie nicht. »Kannst du nicht hören? Zurück in deine Reihe!«, schnitt ihr die andere grob das Wort ab. »Oder du kannst sehen, woher du eine warme Mahlzeit bekommst!«
Brendan ergriff ihren Arm und zog sie von ihnen weg. »Zu spät, Éanna. Da kommst du jetzt nicht durch. Und es bringt auch nichts, wenn du versuchst, dich gegen den Strom zurück zum Eingang durchzukämpfen«, sagte er, während die Menge der Hungernden hinter ihnen nachdrängte. »Bist du dir denn sicher, dass es Emily war?«
Éanna sah ihn verzweifelt an. Noch wenige Augenblicke zuvor war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, die Freundin erkannt zu haben. Doch jetzt fragte sie sich, ob es vielleicht nur die eigene Hoffnung gewesen war, die ihr das Bild vorgegaukelt hatte. Sicher – falls sie noch am Leben war, erschien es Éanna nicht unwahrscheinlich, dass sich Emily in Carlow befand.
Die Hungernden Irlands schlugen nur allzu oft dieselben Wege ein – es zog sie in die gleichen Städte. Dass Éanna und Brendan sich wiedergetroffen hatten, war kein so großer Zufall gewesen, wie er es immer behauptet hatte. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto unähnlicher wurde das Mädchen am Ausgang der wahren Emily. Es musste also doch nur Wunschdenken gewesen sein.
Bitter enttäuscht sank Éanna vor einem angeketteten Blechteller mit angekettetem Blechlöffel neben ihm auf die Bank.
»Wir gehen sie suchen«, versprach Brendan. »Gleich nach dem Essen gehen wir sie suchen.«
»Es wäre so schön«, murmelte Éanna niedergeschlagen. »Du würdest Emily bestimmt mögen!«
»Ich mag dich, Éanna«, sagte er und schenkte ihr einen Blick, der ihr unter die Haut ging. »Und das reicht mir.«
Sie errötete. »Und ich dich«, gab sie leise zurück und schlug schnell den Blick nieder. Ihr war, als stände ihr Gesicht lichterloh in Flammen, so brannten ihr die Wangen. Sie war froh, dass um sie herum ein so lautes Gerede und Geklapper herrschte und dass schon wenig später das Essen ausgeteilt wurde. Denn sie wusste nicht, was sie von diesen verwirrend neuen Gefühlen halten und wie sie mit ihnen umgehen sollte. Das, was sie für Brendan empfand, hatte bislang noch kein anderer Mensch in ihr geweckt.
Nach dem Essen machten sie sich auf die Suche nach Éannas früherer Gefährtin, aber sie fanden keine Spur von ihr in der Stadt, und Éanna musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass sie ein Opfer ihrer eigenen Täuschung geworden war.
Von ihrem restlichen Geld kauften sie Haferflocken und Brot, und so verließen sie Carlow, um sich abermals in den Hügeln und Wäldern einen Lagerplatz zu suchen.
Es war bitterkalt, als sie sich zum Schlafen hinlegten, und Éanna dankte Gott, dass sie gerade im richtigen Moment den Mantel hatten kaufen können, der nicht nur Brendan den Tag über wärmen konnte, sondern ihnen beiden noch zusätzlich eine dicke Schlafdecke bot.
In der Nacht begann es zu schneien. Als sie am nächsten Morgen vor die alte Scheune traten, in der sie Zuflucht gefunden hatten, sah das Land völlig verändert aus. Der Schneefall musste schon vor Stunden eingesetzt haben. Eine dicke weiße und scheinbar endlos weite Decke lag über dem Land und schien jeden Laut zu ersticken. Im Laufe des Tages verwandelte sich der stete Schneefall in wildes Schneetreiben, in dem man kaum noch die eigene Hand vor Augen sah. Und während sie sich mühsam durch das Unwetter vorankämpften, ahnten sie nicht, dass es ausgerechnet der Schnee sein sollte, der ihnen das schlimmste Unglück bringen würde.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Der Winter war mit Macht über Irland hergefallen und sollte das Land so schnell nicht wieder freigeben.
Es hatte Éanna und Brendan in die zerklüfteten Wicklow Mountains, etwa dreißig Meilen südlich von Dublin, verschlagen. In der Abgeschiedenheit der Wälder verstrichen die schneereichen Tage und eisigen Nächte. Das Weihnachtsfest kam und ging, doch es war ihnen noch nicht einmal bewusst. Zu groß war ihre Not.
Sie versuchten es abermals mit Wildern, aber die Bäche waren schnell zugefroren, und die Ausbeute an Fischen fiel immer kläglicher aus. Schlingen im Wald auszulegen, wagten sie nicht. Deshalb sahen sie sich schließlich gezwungen, sich wieder auf den Weg zu größeren Ortschaften zu machen, wo
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