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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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es Suppenküchen gab.
    Es schneite noch immer, als sie an jenem verhängnisvollen Nachmittag aus den Wäldern auf der Südwestseite des Table Mountain kamen. Sie suchten nach der Landstraße, die sie nach Donard bringen würde. Im grauen Licht des Schneegestöbers verlor die in eisigem Schweigen erstarrte Landschaft alle scharfen Konturen. Alles schien in dem lautlos wirbelnden Weiß der Schneeflocken miteinander zu verschwimmen und sich darin aufzulösen.
    Plötzlich blieb Brendan stehen. Sie hatten das sich weitende Ende eines Seitentals erreicht. Er wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und sah Éanna an. Sein krauses Haar lugte nass und schwer unter dem Schal hervor, den er sich um den Kopf geschlungen hatte. Er holte tief Luft. »Éanna, du hast recht gehabt«, sagte er. »So kann es nicht weitergehen. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen nach Dublin gehen.«
    Éanna war so erschöpft, dass sie nicht einmal über seinen plötzlichen Stimmungswandel wunderte. Sie nickte nur.
    »Jetzt im Winter kann uns das Land nicht genug Schutz bieten«, fuhr Brendan fort. »Auch wenn wir immer mal wieder ein Scalpeen oder eine verlassene Kate als Schlafplatz finden – es hilft doch nichts, wenn wir dort jämmerlich erfrieren.« Er sah sich um. »Es ist nicht mehr weit zur Landstraße nach Donard. Von dort aus können wir Dublin in drei bis vier Tagesreisen erreichen. Vielleicht gehören wir ja doch zu den Glücklichen, die in der Stadt Arbeit finden.« Er straffte die Schultern. »Wundern würde es mich nicht. Seit ich dich kenne, bin ich schließlich ein echter Glückspilz!«
    »Ich hab nicht das Gefühl, dass ich irgendjemandem Glück bringe«, gab Éanna niedergeschlagen zurück. »Aber du hast recht. Wir müssen es versuchen. Alles ist besser als das hier.«
    Sie setzte sich wieder in Bewegung und stapfte mit gesenktem Kopf durch den Schnee. Die Erschöpfung umfing sie wie ein dumpfer Schmerz, der ihren Körper von Kopf bis Fuß erfasst hatte. Jeder Schritt fiel ihr so schwer, als klebten schwere Lehmbrocken an ihren Schuhen, und es gelang ihr nicht so recht, sich über ihren Entschluss zu freuen. Was machte es für einen Unterschied, wo sie hingingen? Es würde sie doch überall nur das gleiche Elend erwarten.
    »Vielleicht kann ich in Dublin Arbeit beim Eisenbahnbau finden oder als Schlepper in den Hafendocks?«, sagte Brendan träumerisch. »Ich habe mal gehört, die zahlen dort richtig gut.«
    Éanna wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass Brendan tatsächlich eine solche Arbeit fand. Er selbst hatte das noch vor wenigen Wochen gesagt. Doch sollte sie ihm wirklich die Hoffnung nehmen? Er versuchte doch nur, nach vorn zu sehen! Wie konnte sie seinen unerschütterlichen Optimismus zerstören? Wenn es keine Hoffnung mehr gab, hätten sie auch keinen Grund mehr, um jeden Preis am Leben zu bleiben.
    Sie dachte an Catherine, und plötzlich erschien ihr der schneegraue Nachmittag nicht mehr ganz so trüb wie wenige Augenblicke zuvor. Ja, sie würde das Versprechen an ihre Mutter einlösen, und wer wusste es schon – vielleicht war Catherine weitsichtiger gewesen, als Brendan und sie es jemals geahnt hatten?
    »Wo ist diese Landstraße?«, fragte sie mit fester Stimme und tauschte einen Blick mit Brendan. Ihre Augen sprachen eine eigene Sprache, und sie spürte, dass er sie nur zu gut verstanden hatte. Er lächelte ihr zu, bevor er sich abwandte und angestrengt über das weite, vor ihnen liegende Gelände starrte. Der dichte Schneefall hatte zwar etwas nachgelassen, aber die Sicht blieb dennoch schlecht. Was sich vor ihnen erstreckte, sah nach einem großen Feld oder einer Weidefläche aus. Erhöhungen waren jedenfalls nicht auszumachen – bis auf eine lange dunkle Linie in gut zweihundert, dreihundert Schritten Entfernung schräg rechts vor ihnen.
    »Ich glaube, dahinten liegt sie«, sagte Éanna plötzlich und streckte ihren Finger aus. »Siehst du dort drüben den langen grauschwarzen Streifen? Das könnte eine Feldmauer sein!«
    »Wahrscheinlich führt die Straße dort direkt an der Umfriedung entlang!«, führte Brendan ihren Gedanken zu Ende.
    Rasch setzten sie sich in Bewegung. Éanna wandte sich nach links, um den kürzesten Weg durch das Feld hinüber zur Mauer zu nehmen.
    »He, lauf mir nicht weg!«, rief Brendan ihr scherzhaft hinterher. Er war ein Stück zurückgeblieben, weil sein Schuhriemen sich gelöst hatte. »Oder willst du mich vielleicht loswerden und dich auf eigene Faust nach Dublin

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