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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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zu, als sie ihren Krankenbesuch bei ihr mit den neckenden Worten beendete: »Es reicht ja schon, wenn er sich aus Sehnsucht nach dir verzehrt!«

Achtundzwanzigstes Kapitel
    Zwei Tage später, am dritten Januar des neuen Jahres 1848, konnte Éanna früh am Morgen die Fieberstation unter dem Dach verlassen. Ihr wurde eine Bettstelle in einem der regulären Frauenschlafsäle ein Stockwerk tiefer zugewiesen. Emily hatte dafür gesorgt, dass Éanna zu ihr und Caitlin in den Nordsaal des dritten Stockes kam.
    Emily holte sie eine Viertelstunde vor dem Frühstück oben ab, um sie hinunter in den Nordsaal zu bringen und ihr den Schlafplatz zu zeigen. Sie wollte nicht, dass Éanna, die noch immer recht schwach auf den Beinen war, in den weitläufigen Geschossen von Saal zu Saal irrte.
    Éanna wartete bereits auf sie. »Hast du von Dermod Wickham gehört, ob er Brendan im Männertrakt gefunden und ihm meine Nachricht ausgerichtet hat?«, fragte sie gleich als Erstes. Schon am Tag zuvor hatte sie die Freundin mit Fragen gelöchert, doch Emily hatte nur lachend abgewinkt. Heute jedoch reagierte sie sichtlich gereizter.
    »Du musst schon etwas Geduld haben«, sagte sie schroff, und ihr Gesicht nahm dabei einen ungewöhnlich verschlossenen Ausdruck an. »Also tu mir den Gefallen und frag nicht länger! Wir werden schon alles in Erfahrung bringen. Und jetzt komm! Bis zum Frühstück haben wir nicht mehr allzu viel Zeit. Wenn die Glocke durchs Haus schallt, müssen wir zusehen, dass wir nach unten in den Esssaal kommen. Wer nicht pünktlich erscheint, wird abgewiesen und muss bis zum Abend hungern.«
    Irgendetwas an der Antwort ihrer Freundin irritierte Éanna. Außerdem hatte sie das Gefühl, Emily würde ihrem Blick ausweichen. Oder bildete sie sich das nur ein? Konnte es sein, dass Emily ihr etwas verschwieg?
    Kaum war Éanna diese Frage durch den Kopf geschossen, als sie sich auch schon für ihr Misstrauen schämte. Wie konnte sie ihrer Freundin nach allem, was sie für sie getan hatte, nur so etwas unterstellen?
    »Entschuldige, dass ich dir so auf die Nerven gehe«, sagte sie schuldbewusst. »Ich verspreche dir, von jetzt nicht mehr zu fragen, sondern abzuwarten, bis du was von Dermod gehört hast und von selbst davon anfängst.«
    Emily winkte mit einem müden Lächeln ab. »Unsinn! Du hast keinen Grund, dich bei mir für irgendetwas zu entschuldigen«, erwiderte sie. »Ehrlich gesagt bin ich diejenige, die hier kratzbürstig ist. Ich habe heute einfach nicht meinen besten Tag, Éanna. Und jetzt lass uns gehen. Stütz dich ruhig auf mich, dann fühlst du dich sicherer. Und mach dich auf was gefasst, wenn du gleich die Schlafsäle da unten zu sehen bekommst!«
    »Wie meinst du das?«
    »Na, wenn du schon die Fieberstation für entsetzlich überfüllt gehalten hast, dann wirst du in den Schlafsälen wohl das Gefühl haben müssen, dass es in einer Dose voller Regenwürmer kaum viel beengter zugeht als dort.«
    Emily hatte nicht übertrieben. Schon im Treppenhaus und auf dem Gang gab es kaum ein Durchkommen. Viele Insassen des Arbeitshauses waren der Enge der Schlafsäle entflohen und hatten sich in den Gängen verteilt, um dort auf den Glockenschlag zu warten. Überall kauerten oder lagen Frauen und Mädchen entlang der nackten Wände auf dem kalten Steinboden, alle in das verschlissene, triste grau-schwarz karierte Tuch der Anstalt gekleidet und von langer Hungersnot gezeichnet. Mit stumpfen Augen starrten sie apathisch vor sich hin. Menschen ohne einen Funken Hoffnung, für die das Arbeitshaus zur Endstation ihres gequälten Lebens geworden war.
    Éanna war mit all den entsetzlichen Bildern des Elends seit Langem vertraut. Aber in dieser Vielzahl und dermaßen dicht gedrängt auf engstem Raum erhielt das Leiden ihrer Landsleute eine völlig neue Dimension des Schreckens. Es schnürte ihr die Kehle zu, und fast fühlte sie sich schuldig, dass sie offensichtlich zu dem kleinen Teil derjenigen unter den fast zweitausend Insassen zählte, die sich trotz aller Schwäche noch in einer verhältnismäßig guten körperlichen Verfassung befanden. Zumindest hatte sie sich noch nicht völlig aufgegeben.
    Im Schlafsaal bot sich ihr ein noch entsetzlicheres Bild als auf den Gängen. Er hatte einmal vielleicht hundertfünfzig Personen ein armseliges und hartes Nachtquartier bieten sollen, beherbergte nun jedoch über vierhundert Insassen.
    Zu beiden Seiten eines Mittelgangs reihten sich vom Eingang bis hinten ans Ende Bretterkästen mit

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