Wildes Herz
niedrigen Seitenborden lückenlos an den Wänden aneinander. Und fast jeder dieser Kästen, der eigentlich nur eine Person aufnehmen sollte, war nun mit drei Insassen belegt. Matratzen gab es nicht. Eine dünne Lage aus altem dreckigem Stroh diente als Unterlage auf den harten Brettern. Decken waren Mangelware, wie Emily ihr schon berichtet hatte, und ständig Anlass zu Streitereien unter den Frauen. Nur zwei schmale gusseiserne Öfen, die morgens und abends mit einigen wenigen neuen Kohlen bestückt wurden, sorgten für einen Hauch von Wärme. Wer wie Emily, Caitlin und Éanna seinen Schlafkasten, von den meisten nur ›Schlafsarg‹ genannt, in der Nähe von einem dieser Öfen hatte, zählte zu den Glücklichen unter den Insassen.
Die Bewohner des Schlafsaals waren schon auf den Beinen und drängten in Erwartung des baldigen Glockenschlags, der zum Frühstück rief, aus ihren Schlafkästen. Eine grau-schwarze Menge ausgemergelter Gestalten wogte durch den Mittelgang.
»Lass uns hier an der Tür auf Caitlin warten«, sagte Emily, die ihre Gefährtin entdeckt hatte. »Wir müssen ja doch gleich nach unten. Aber siehst du den dritten Kasten da drüben auf der rechten Seite vor dem Kohlenofen?« Sie deutete in die Richtung des vorderen Ofens.
Éanna folgte ihrem Fingerzeig und nickte stumm.
»Das ist unser Schlafsarg, der dritte gleich neben dem Ofen. Wir beide haben ihn zum Glück ganz für uns«, teilte Emily ihr mit. »Die Frau, mit der ich mir bisher den Kasten geteilt habe, ist heute im Morgengrauen einen Schlafplatz näher zum Ofen aufgerückt. Caitlin schläft dort drüben, zusammen mit der alten McCormack und ihrer Enkelin Sarah.«
Éanna schwieg. Ihr schauderte bei dem Gedanken, dass dies von nun an ihre Unterkunft sein sollte – für wer weiß wie lange Zeit. Sie erinnerte sich sehr wohl daran, was sie über das Leben hinter den hohen Mauern eines Arbeitshauses gehört hatte. Allein der Anstaltsleiter entschied darüber, wann ein Insasse das Arbeitshaus wieder verlassen durfte. Dass jeder aus freien Stücken und nur aus größter Not um Aufnahme gebeten hatte, war dabei ohne jede Bedeutung. Wer sich einmal hinter die Mauern der Anstalt begeben hatte, der hatte damit jegliches Recht auf eine freie Entscheidung verwirkt. Mit welcher Rechtfertigung das geschah, wusste Éanna nicht. Aber ob ihr das Wissen geholfen hätte? Sie bezweifelte es.
Im nächsten Moment schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf. Denn da stand Catlin auch schon vor ihr und begrüßte sie auf ihre unverwechselbar sarkastische Art. »Na, auferstanden von den Toten, Éanna Sullivan?« Caitlin musterte sie mit einem spöttischen Blick. »Bist dem Tod da oben also noch mal von der Schippe gesprungen – oder gerade aus dem Leichensack gerutscht, wie Dermod wohl sagen würde. Tja, ich weiß bloß nicht, ob ich dich beglückwünschen oder bedauern soll.«
»Am besten lässt du das eine wie das andere. Ich möchte nicht, dass du dich meinetwegen unnötig quälst, Caitlin. Du hast auch so schon genug mit dir selbst zu schaffen, wie ich sehe«, erwiderte Éanna bissig.
Caitlin schenkte ihr ein breites, anerkennendes Grinsen. »Ja, das ist wieder ganz die Éanna Sullivan, wie ich sie in Erinnerung gehabt habe! Ist schon ganz in Ordnung, dass du wieder bei uns bist, wirklich!«, sagte sie und umarmte sie zu Éannas Überraschung. Doch sie tat es hastig, fast als schämte sie sich für ihre Gefühlsregung. »Sich mit Emily anzulegen, macht nämlich im Gegensatz zu dir keinen Spaß. Sie ist einfach zu lammfromm für mich und zeigt mir nie die Krallen!«
»Da hätte ich bei deinem lockeren Mundwerk ja auch viel zu tun«, erwiderte Emily trocken.
In dem Moment ertönte von unten die Glocke. Ihre durchdringend hellen Töne schallten fast schmerzhaft laut durch das Gebäude.
Emily und Caitlin nahmen Éanna in ihre Mitte, damit sie bei dem Gedränge auf den langen Steintreppen nicht umgestoßen und zu Boden gerissen wurde.
»Wenn man sieht, wie eilig es alle haben, hinunter in den zugigen Speisesaal zu kommen, könnte man meinen, dass es da gleich was Anständiges zu essen gibt. Dabei wird auch heute wieder nur elender Drecksfraß aus den rostigen Kesseln der Küche kommen!«, schimpfte Caitlin. »Welcher Teufel hat uns bloß geritten, uns freiwillig dem Elend eines Arbeitshauses auszuliefern?«
Emily verzog das Gesicht und zuckte müde die Achseln. »Der Teufel namens Hunger und Kälte, Caitlin! Und wie schrecklich die Zustände hier auch
Weitere Kostenlose Bücher