Wildes Herz
sein mögen, verhungern und erfrieren werden wir jedenfalls nicht.«
»Und für ein Stück Schlafsarg und zweimal wässrige Pampe am Tag bezahlen wir mit völliger Entmündigung und monotoner Plackerei!«, erwiderte Caitlin zornig.
Emily zuckte die Achseln. »Niemand hat uns dazu gezwungen, auch dich nicht.«
»Das ist es ja, was ich mir so zu schaffen macht! Ich muss wirklich nicht ganz bei Sinnen gewesen sein!«
»Richtig«, bestätigte Emily knapp. Dann sagte sie zu Éanna: »Sobald du die Schwelle des Speisesaals überschritten hast, darfst du auf keinen Fall mehr mit uns sprechen! Alle Mahlzeiten müssen unter völligem Schweigen eingenommen werden. Die Aufseherinnen nehmen es mit dem Redeverbot sehr genau und haben auch für verstohlenes Geflüster ein scharfes Gehör.«
»Und was geschieht mit dem, der dabei erwischt wird?«, fragte Éanna.
»Der bekommt beim ersten Mal als Verwarnung eins mit dem Rohrstock übergezogen«, gab Caitlin zur Antwort. »Und die Biester schlagen ihren Rohrstock mit Vorliebe auf die nackte Haut, wo es besonders schmerzhaft ist. Also auf die Hände oder den Nacken. Manche schlagen dir sogar ins Gesicht. Das gibt dann einen bösen roten Striemen, der wie Feuer brennt. Ich weiß, wovon ich rede!«
»Und wer das Redeverbot ein zweites Mal bricht, bekommt nicht nur Latrinendienst aufgebrummt, sondern wird auch noch von der nächsten Mahlzeit ausgeschlossen«, fügte Emily hinzu.
»Das ist ja schlimmer als in den Suppenküchen«, sagte Éanna bedrückt.
Caitlin nickte mit grimmiger Miene. »Viel schlimmer sogar! Aus den Suppenküchen ist man ja schnell wieder raus. Aber hier gibt es kein Entkommen. So gut wie alles ist verboten und wird mit harten Strafen geahndet, insbesondere Karten- und Würfelspiele, Rauchen, Alkohol und Fluchen!« Und dann gab sie aus Trotz einen ganz üblen lästerlichen Fluch von sich, mit dem sie Dudley Boyle, dessen biestige Frau und allen Aufseherinnen die Pest und Krätze an den Hals wünschte. Wohlweislich jedoch mit so leiser Stimme, dass nur Emily und Éanna diese üble Verwünschung hören konnten.
»Jetzt halte besser die Klappe!«, raunte Emily ihr zu.
Sie hatten inmitten des grau-schwarz wogenden Menschenstroms die große Halle im Erdgeschoss erreicht. Schlagartig verstummte auch noch das letzte leise Gerede in der Menge, und eine geradezu gespenstige Stille trat ein.
Beklemmung erfasste Éanna. Instinktiv wusste sie, dass diese plötzliche unnatürliche Stille um sie herum nichts mit dem Redeverbot bei den Mahlzeiten zu tun haben konnte. Die Türen des Speisesaals waren noch verschlossen. Aber was war es dann, was die Insassen der Anstalt mit einem Schlag völlig verstummen ließ?
Neunundzwanzigstes Kapitel
Zwei separate Treppenaufgänge führten von der zugigen Halle im Erdgeschoss bis unter das Dach. Eine Treppenanlage verband die Stockwerke des Frauentraktes, die andere gehörte zum Gebäudeteil der männlichen Insassen. Ein hohes Trenngitter aus dicken Eisenstäben, vor dem sich auf beiden Seiten Aufsichtspersonal der Anstalt postiert hatte, teilte die Halle in zwei Hälften. An ihrem Ende ging es rechts und links zu den Arbeitsstätten und den hoch ummauerten Innenhöfen. Schwere Holztüren sorgten für getrennte Ausgänge aus dem Wohnhaus.
Das Gitter teilte jedoch nicht nur die Halle, sondern auch eine große Schiefertafel, die an der Stirnwand des riesigen Raumes angebracht war. Dort standen auf der linken Seite mit Kreide die Namen der Toten aus dem Frauentrakt und auf der rechten die Namen der männlichen Verstorbenen.
»Das ist das Totenbuch der Anstalt«, raunte Emily. »Jeden Sonntagmorgen wird die Tafel sauber gewischt, und dann beginnt die Wochenzählung der Verstorbenen von Neuem. Das hier ist die einzige Möglichkeit zu erfahren, ob Ehemänner, Väter, Freunde oder Nachbarn noch am Leben sind!«
Beim Anblick der Schiefertafel bekam Éanna eine Gänsehaut. Insgesamt mussten es über dreißig Namen sein, die dort in zwei Kolonnen, vom Gitter getrennt, untereinander aufgelistet standen. Und dabei waren es noch zwei volle Tage hin bis zum nächsten Sonntag!
Éanna verstand nun, warum hier unten in der Halle auf einmal eine so gespenstige Stille herrschte. Viele Augenpaare um sie herum richteten sich voller Angst auf die Liste der Namen. Hastig überflog auch Éanna die Namen der Männer, die auf der anderen Seite verzeichnet waren. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie am Ende der Liste angelangt war.
Er stand nicht
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