Wildes Herz
tiefer. Sie legte die Hände an den Mund. Der Habichtschrei klang nach oben. Zebra wieherte nervös und scharrte mit den Hufen. Wieder ertönte der Habichtschrei und erinnerte die Stute daran, dass Jannas Rucksack mit Leckereien gefüllt war, die sie erwarteten, wenn sie dem Ruf folgte.
Die Stute hob einen schwarzen Huf und setzte ihn wenige Zentimeter tiefer wieder auf. Der nächste Huf folgte. Noch ein paar weitere Zentimeter mehr, die sie geschafft hatte. Die Ohren aufgestellt und mit nervös zuckendem Fell, arbeitete sich Zebra Zentimeter um Zentimeter in die Tiefe. Anerkennende und aufmunternde Worte murmelnd, wich Janna in den gleichen Abständen zurück und lockte die wilde Stute, ihr weiter nach unten zu folgen.
In Schweiß gebadet, beobachtete Ty den Fortschritt von Janna und Zebra. Eine zögernde Bewegung, ein loser Stein, ein falsch aufgesetzter Schritt der Stute, dann würden Mensch und Tier in einem tödlichen Wirbel aus verkeilten Beinen und Leibern talwärts poltern. Der Platz reichte nicht aus, um zur Seite zu springen oder in Deckung zu gehen. Wenn Zebra stürzte, würde Janna tot sein.
Unbewusst begann Ty leise zu beten, ohne den Blick von Zebra zu nehmen, die sich in winzigen Schritten vorantastete. Er litt Seelenqualen, als würde er gefoltert.
Wenn du lebendig aus diesem Höllenloch herauskommst, Janna, gelobte er stumm, bringe ich dich an einen Ort, wo dir nie mehr Gefahr droht. Und wenn es mein Rucksack ist, in den ich dich gefesselt stecken muss.
Je tiefer die Stute kletterte, desto mehr wunderte er sich, wie ein Pferd diesen Weg schaffen konnte. Zebra war ihn gegangen. Zusammengeschobene Erdhaufen und vom Rutschen verlängerte Hufabdrücke waren die unübersehbaren Beweise. Leise zählte Ty die Schritte, die Zebra machen musste, bis der Pfad ebener wurde und sie nicht mehr auf die Vorderbeine gestemmt und mit gesenktem Hinterteil gehen musste.
„Sieben, sechs, fü...“
Die Stute schlitterte die letzten fünf Meter bergab. Dann blieb sie ruhig stehen und nahm Jannas Lob entgegen.
30. Kapitel
Lucifer trat zur Kante des Plateaus, wieherte laut und erhielt Antwort von Zebra. Er wieherte ein zweites Mal. Zebra blickte den steilen Pfad entlang nach oben, machte aber keinen Schritt auf Lucifer zu.
„Sie hat nicht vor, zu dir hinaufzuklettern“, sagte Ty ruhig. Er stand neben dem Hengst und übte mit dem Hackamore einen stetigen Druck nach vom aus. „Wenn du bei ihr sein willst, brauchst du Mut.“
Der Hengst machte einen ersten Schritt auf den Pfad, legte die Ohren nach hinten ... und begann mit dem Abstieg.
Der Anblick, wie Ty neben den riesigen Hufen des Hengstes in die Tiefe stieg, zerrte an Jannas Nerven. Sie hatte weniger Angst gehabt, als sie vor Zebra an der Ostwand des Hochplateaus in die Tiefe gestiegen war. Die ersten fünfhundert Meter waren besonders gefährlich. Auf dem schmalen Weg neben Lucifer zu bleiben war oft genug nur möglich, wenn Ty sich unter den mächtigen Pferderumpf duckte.
Lass ihn laufen. Lass Lucifer den Weg allein finden, drängte Janna stumm. Er wird jetzt nicht zurückscheuen. Das kann er nicht. Er hat nur noch die Möglichkeit, weiter abwärts zu gehen. Er weiß das auch.
Schnaubend, trippelnd, rutschend, schwitzend, während die Muskeln seines verletzten Beines unter der Anstrengung zitterten, überwand der Hengst erstaunlich schnell den ersten halben Kilometer. Mehr als einmal, als die Hufe ausglitten, gewann das Pferd die Kontrolle über sich zurück. Mit einem rechtzeitigen Ruck am Hackamore, der Lucifers Kopf nach oben holte, bewahrte Ty den Hengst vor einem Sturz. Unter normalen Bedingungen hätte Lucifer genug Kraft und Beweglichkeit besessen, um allein den steilen Pfad zu schaffen. Die Verletzung aber machte das schwierige
Gelände für ihn so gut wie unbegehbar. Er war auf Tys Hilfe angewiesen.
Plötzlich gab das verletzte Bein nach. Der Hengst verlor den Halt. Ty zog mit aller Kraft am Hackamore, damit Lucifer das Gesäß wieder vom Boden hob. Auf die Vorderbeine gestemmt und die Hufe in den Untergrund gebohrt, schlitterte das Pferd fast zwölf Meter in die Tiefe, bevor es zum Stillstand kam. Wie ein riesiger schwarzer Hund hockte Lucifer mit eingeknickten Hinterbeinen da, schwitzend vor Erregung, während um ihn herum losgetretene Steine über das Gefälle rollten. Unmittelbar neben ihm schwitzte Ty nicht weniger. Sie waren nur knapp einer Katastrophe entgangen. Ein Mann mit geringerer Körperkraft als Ty hätte nicht verhindern
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