Wildes Lied der Liebe
schon ein gutes Stück von der Hütte entfernt, als sie eine Stelle mit Erdbeerpflanzen fand. Christy bückte sich und begann, die kleinen, aromatischen Beeren in ihrer Schürze zu sammeln. Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie ihr Großvater sie früher oft beschuldigt hatte, mehr Beeren zu essen, als sie nach Hause brachte. Dann hatte er gelacht, Christy hochgehoben und sich mit ihr um die eigene Achse gedreht, bis sie vor Vergnügen gekreischt hatte.
Das Schnauben eines Pferdes verriet Christy, dass sie nicht mehr allein war, obwohl sie weder Hufschläge noch das Klirren von Zaumzeug gehört hatte. Sie blickte auf und sah eine alte, weißhaarige, grimmig dreinblickende Indianerin, die sie vom Bücken einer hellbraunen Stute aus beobachtete. Die Frau war in Leder gekleidet und trug einen Speer in der Hand. Ihre Augen glänzten so schwarz wie Krähenflügel.
Christy war so verblüfft, dass ihr zunächst überhaupt nicht auffiel, dass die Alte außer dem Speer noch etwas anderes trug. Ihr erster Gedanke war, sich dafür zu entschuldigen, offenbar Indianergebiet betreten zu haben. Doch bevor sie noch etwas von sich geben konnte, beugte sich die Frau vor und hielt Christy ein strampelndes, wimmerndes Bündel hin.
»Mach gesund«, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Medizin des weißen Mannes. Mach gesund.«
Obwohl sie Angst hatte, brachte die Neugier Christy dazu, näher zu treten, die Arme auszustrecken und dabei ganz die Erdbeeren in ihrer Schürze zu vergessen. Plötzlich hielt sie einen Säugling, der in eine Pferdedecke gewickelt war. Das Kind war kaum noch bei Bewusstsein. Hitze strahlte von dem kleinen Körper aus, und auf der Stirn des Kindes standen Schweißperlen.
»Warten Sie«, bat Christy, als der Bann gebrochen war und sie den Blick vom Gesicht des Babys wenden konnte. »Ich kann nicht... Ich bin nicht...«
»Mach gesund«, wiederholte die Alte und drohte mit dem Finger. Ihre Hände waren so knotig und gekrümmt wie die Wurzeln eines uralten Baumes.
»Aber ...«
Die Indianerin wendete ihr Pferd und trieb es mit den Fersen ihrer Mokassins an. Schon bald war sie zwischen den Bäumen verschwunden.
Christy schob die Decke zurück und betrachtete das kleine, schweißnasse Gesicht. Sie hatte Caney auf dem Weg nach Westen dabei geholfen, die Verletzten zu pflegen, hatte gebrochene Knochen gerichtet und sogar hin und wieder eine Kugel aus einem Bein oder einer Schulter entfernt. Dennoch hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie sie diesem Kind helfen sollte.
Nach einer Weile löste sie sich aus ihrer Erstarrung und ging nach Hause. Sie hatte die Hütte schon fast erreicht, als ihr bewusst wurde, dass der Säugling womöglich an Scharlach erkrankt war. Damit bedeutete das Kind eine große Gefahr für Megan, die diese gefürchtete Krankheit nie gehabt hatte, von Bridgets kleinem Sohn Noah und dem ungeborenen Baby ganz zu schweigen. Christy konnte sich nicht daran erinnern, ob sie selbst Scharlach gehabt hatte oder nicht. Möglicherweise war sie noch ein kleines Mädchen gewesen.
Sie blieb stehen. Was sollte sie nun tun? Das Kind einfach seinem Schicksal zu überlassen war unmöglich. Doch sie durfte auch nicht das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzen. Wenn doch nur Caney nicht in die Stadt geritten wäre! Sie hätte sicher einen Rat gewusst.
Schließlich setzte Christy ihren Weg fort und ging durch das Unterholz auf die Straße zu, die nach Primrose Creek führte. Es gab zwar keinen Arzt in der näheren Umgebung, doch vielleicht würde sie Caney treffen, wenn diese von ihrem höchst unschicklichen Treffen mit Mr. Malcolm Hicks zurückkehrte.
Stattdessen begegnete sie Trace, der einen Wagen voller Baumaterial kutschierte. Als er Christy sah, zügelte er die Pferde und lächelte ihr zu. Mit dem Fuß zog er die Bremse des Wagens an. »Hallo«, begrüßte er Christy. Als er sah, dass sie etwas in den Armen trug, wurde er ernst und stieg vom Kutschbock. »Ein Soldat wird bald zu euch kommen, um die Armeepferde abzuholen«, berichtete er. »Er heißt Charlie Brimm und ist auf dem Weg nach Fort Grant. Er hat angeboten, die Pferde gleich mitzunehmen.«
Die beiden Pferde, die sie und Megan sich geliehen hatten, waren im Augenblick Christys geringste Sorge. »Halt, Trace«, erklärte sie laut und fest. »Komm nicht näher.«
Er sah sie erstaunt an und schob sich den Hut in den Nacken. »Was ...«
Sie schlug die Decke zurück, sodass er das Gesicht des Kindes sehen
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