Wildhexe 1 - Die Feuerprobe
sie. »Es ist nicht weit, vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte.« Sie marschierte los, auf geradem Weg durch Büsche und Gestrüpp. Tante Isa und ich folgten ihr, versuchten aber, den größten Hindernissen auszuweichen.
Und tatsächlich kauerte genau an der Stelle, auf die sie gezeigt hatte, ein Igel. Er hatte versucht, sich unter einem Dornenbusch zusammenzurollen, aber sogar ich konnte erkennen, dass das Tier da keine gute Höhle gefunden hatte. Hier gab es kein warmes, trockenes Grasnest, und die Zweige des Busches waren kein Ersatz für die dichte Decke, die der Reisighaufen gebildet hatte.
»Hier kann er nicht überleben«, sagte Kahla leise. »Sollen wir ihn mit ins Haus nehmen?«
»Ja«, sagte Tante Isa. »Aber zuerst müssen wir noch eine Kleinigkeit erledigen.«
»Und das wäre?«, fragte Kahla.
Isa lächelte.
»Eine Flohjagd«, sagte sie. »Das ist unsere heutige Lektion.«
Erst sah Kahla verblüfft aus, dann fingen ihre dunklen Augen zornig zu funkeln an.
»Flöhe?«, sagte sie. »Wir sollen unsere Zeit mit Flöhen verschwenden?«
Isa nickte, ohne von Kahlas beleidigter Miene Notiz zu nehmen.
»Auch Flöhe sind ein Teil der Wilden Welt«, sagte sie. »Aber ich möchte sie trotzdem lieber nicht im Haus haben.« Sie nahm ein weißes Geschirrtuch aus ihrem Korb und breitete es auf der Erde aus. Vorsichtig nahm sie den Igel hoch und setzte das kleine Tier mitten auf das Tuch. Sie schloss die Augen und summte ein paar Töne. Erst konnte ich nicht wirklich erkennen, dass etwas passierte, aber dann sah ich es: auf dem weißen Stoff um den Igel herum tauchten plötzlich zehn, zwölf kleine schwarze Punkte auf. Und während ich dastand und zusah, hüpften weitere vier, fünf Flöhe vom Igel auf das Geschirrtuch.
Tante Isa setzte den Igel in ihren Korb.
»Jetzt seid ihr dran«, sagte sie. »Kahla, du fängst an. Du nimmst die auf der linken Hälfte des Tuchs. Nur die!«
Kahla rieb sich mit ihrem gelben Handschuh die Nase. »Kann ich nicht einfach alle auf einmal nehmen?«
»Nein. Es geht um Präzision. Bitte sehr, leg einfach los.«
Es war offensichtlich nicht notwendig, Kahla zu erklären, wie sie es machen musste. Genau wie meine Tante schloss sie die Augen. Dann fing sie an zu summen.
Schlagartig kam Bewegung in die Flöhe. Eine stramme Formation kleiner Flohsoldaten hatte sich auf einem Quadratzentimeter versammelt und fing an, in rhythmischen kleinen Sprüngen an den Rand des Handtuchs zu marschieren.
Ich starrte hin. Blinzelte. Starrte.
Aber egal, wie oft ich blinzelte, die Flöhe marschierten immer weiter. Schnurgerade hintereinander.
»Stopp«, sagte Isa.
Kahla öffnete die Augen. »Was?«, sagte sie. »Warum?«
»Du hast sie alle. Nur die Hälfte bitte.«
Kahla runzelte die Stirn. »Ja, aber sie sind so klein «, sagte sie frustriert. »Die kann man doch nicht auseinanderhalten!«
»Versuch es.«
Kahla war sichtlich genervt von Isas Kritik, aber sie sagte nichts mehr. Sie rieb sich wieder die Nase, und die Flohformation fiel auseinander und alle verteilten sich über das ganze Handtuch. Kahla schloss die Augen. Summte ein paar Töne – dieses Mal leiser, aber dieselbe Melodie. Die Flöhe versammelten sich in derselben Aufstellung wie vorher. Kahla ballte die Fäuste und biss sich auf die Lippe. Sie war plötzlich ganz kurzatmig geworden. Da trennte sich ein kleiner schwarzer Punkt von der Flohtruppe und hüpfte zum Rand des Geschirrtuchs. Und dann noch einer und noch einer, bis haargenau neun von achtzehn Flöhen auf dem Waldboden verschwunden waren.
»Sehr schön«, lobte Isa. »Da kannst du mal sehen, du konntest es doch.«
Kahlas verfrorenes Gesicht hellte sich zu einem Lächeln auf, das erste, das ich an diesem Morgen von ihr zu sehen bekam. Ihre dunklen Augen strahlten.
»Ich habe es geschafft!«, sagte sie. »Ich habe sie gefunden!«
»Ja, das hast du. Und jetzt ist Clara dran.«
Ich starrte die Flöhe an, die auf dem Handtuch zurückgeblieben waren. Das war doch vollkommen lächerlich. Hätte ich nicht gesehen, wie Kahla es geschafft hatte, hätte ich gesagt, dass es unmöglich ist. Aber auf jeden Fall war ich sicher, dass ich das nicht hinbekommen würde.
»Könntest du dieses Lied da noch mal singen?«, fragte ich, um etwas Zeit zu gewinnen. »Ich habe nicht ganz verstanden, wie …«
»Es ist nicht das Lied«, sagte Isa. »Das macht es nur leichter, sich zu konzentrieren. Du musst überhaupt nicht singen, wenn du nicht willst.«
»Aber wie soll ich denn dann
Weitere Kostenlose Bücher