Wildnis
nebeneinander Platz und legten die Füße auf das nasse Geländer. Ein vertrauter Moment der Freundschaft hatte sich eingeschlichen – Jan hätte losheulen können.
Michael brach das Schweigen. „Ist Anna verletzt?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Greg ist übel zugerichtet.“
„Was ...“ Jan hätte beinahe gefragt, was Anna Greg angetan habe.
„Was der Indianer mit Greg angestellt hat? Laura spricht ständig von dem Indianer, dabei können wir gar nicht sicher sein, dass sich da draußen nicht noch ein Gestörter rumtreibt. Aber vermutlich war es der Indianer. Wer sonst?“
Jan wollte das Gespräch zurück auf Greg lenken, doch Michael fuhr fort: „Du hast den Typen gesehen. Traust du ihm zu, dass er foltert und mordet?“
„So etwas kann man Menschen nicht ansehen.“
„Nein, das Böse in uns bleibt verborgen, und manchmal auch die Wahrheit.“ Michael schnaubte zynisch und schaute hinaus in den Dunst, der vom Boden aufstieg. „Hast du den Baum gesehen, den der Blitz zertrümmert hat?“
„Ja, das war knapp“, sagte Jan. „Hat das Haus eigentlich einen Blitzableiter? Gewitter sind hier doch eher selten.“
„Und dann gleich so eines ... Du hast gesagt, dass Annas Fenster offen stand. Über den Baum, der darunter wächst, könnte der Irre ins Zimmer gelangt und zurück in die Gewitternacht entwichen sein. Danach ist Greg auf den Flur gekrabbelt und gegen unsere Tür gestoßen. Mich hat nämlich ein Klopfen aufgeweckt, deswegen bin ich überhaupt auf Greg gestoßen.“
„Wie geht es ihm mittlerweile?“
„Seine Augen zucken und zittern unverändert, nicht eine Minute hat er sie geschlossen ... Hast du gerochen, dass er sich vollgeschissen hat?“ Michael kämpfte einen Brechreiz nieder. „Das war eine ekelige Arbeit, ihn sauber zu kriegen. Wenn ich mir vorstelle, dass Babys sich fünfmal am Tag in die Windeln kacken ...“
Jan nickte ungeduldig.
„Was dieser Irre mit Gregs Schwanz gemacht hat ... Alles voller Brandblasen. Das muss höllisch weh tun.“ Michael verzog das Gesicht. „Ich will nicht wissen, wie sein Ding aussieht, wenn es abgeheilt ist.“
„Mein Gott!“
„Du kannst ruhig für seinen Schwanz beten, der hat das nötig.“ Michael lachte. Das schien ihn zu befreien. „Vielleicht ist Gott ja doch ein Mann und hat Erbarmen. Es war echt heftig, das zu sehen und ihm dann auch noch wehtun zu müssen. Er hat uns partout nicht rangelassen. Wir wollten dich schon zur Hilfe holen, da kam uns die Idee, ihn zu fesseln. Das hat er brav mit sich machen lassen. Danach konnten wir ihn endlich säubern und desinfizieren.“
„Er hat nichts gesagt?“
„Nicht ein artikuliertes Wort.“
„Er wird bald wieder sprechen können.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Greg ist ein Pflegefall, auf den können wir nicht mehr bauen. Und Laura ist völlig unvorhersehbar. Als wir den Kojoten gefunden haben, hat sie sich extra-tough gegeben. Dann erwägen wir, ob der Verbrecher es auf die Mädchen abgesehen haben könnte, und sie bricht in Tränen aus. Vor dem Schlafen ist sie aufgekratzt und überzogen fröhlich. Ist sie dir auch mit ihrem Weltuntergangshumor auf den Keks gegangen? Naja, und als sie mir mit Greg ausgeholfen hat, war sie wie gelähmt und ich musste ihr jeden Handgriff vorschreiben. Heute Morgen ging es ein bisschen besser, aber sie war noch immer passiv und folgsam. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass der Zustand bei Laura anhält. Keine Ahnung, was uns als Nächstes bevorsteht.“
Jan überlegte, was an diesem Tag alles geschehen könnte. Was, wenn Anna aufwachte und ihre Tat Jenny verriet? „Ich glaube, ich habe etwas gehört. Lass mich schnell nach Anna schauen“, sagte er und schwang die Beine vom Geländer. Michael salutierte mit grimmiger Miene.
Jan übernahm etwas grob die Bettwache von Jenny, die sich einen Stuhl aus dem Mädchenzimmer geholt hatte. Er ließ sich nieder und beobachtete Anna. Eine Locke, die bis zu ihrem Mundwinkel reichte, hob sich bei jedem Ausatmen.
Durfte er die Gruppe belügen? Die Anderen hatten ein Recht zu wissen, dass Gregs Zustand nicht dem Verrückten zuzuschreiben war, der den Kojoten aufgehängt hatte. Es ging um ihre Sicherheit! Allerdings war niemand so sehr gefährdet wie Anna. Und Jan konnte nicht wissen, ob die Gruppe sie ebenso entschlossen schützen würde, wenn ihre Tat bekannt wäre.
Anna schlug die Augen auf. „Wie geht es ihm?“
Gott sei Dank! Greg hatte ihr nichts getan! Würde sie sonst gleich nach ihm
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