Wildnis
Ebenbild im Spiegel.
In diesem Moment könnte Greg ... Er riss den Riegel zurück, stürzte in den Flur und warf sich gegen Annas Tür. Sie war verschlossen – und hielt stand. Er hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz und schrie ihren Namen.
Nichts geschah, niemand zeigte sich. Konnte ihn das Tosen des Sturmes übertönt haben? Sollte er ins Jungenzimmer, Michael und Laura hinzuholen? Hilflos stand er in der Dunkelheit.
„Geh weg!“ Annas Stimme! Sprach sie aus freiem Willen oder hielt ihr Greg auf der anderen Seite der Tür das Messer an die Kehle?
Er pochte noch einige Male.
Sie hatte entschlossen geklungen, nicht wie eine, die um ihr Leben fürchtend Hilfe herbeisehnt. Er legte seine Hand gegen das Holz und wünschte, er könnte ihr Gesicht berühren. Dann kehrte er ins Mädchenzimmer zurück. Er konnte jetzt nicht allein sein.
Jenny schien zu schlafen, doch als er sich zu ihr legte und sie sich an ihn kuschelte, war er sich sicher, dass sie sich verstellte. Sie musste seine Schreie nach Anna gehört haben. Warum war sie nicht gekommen? Warum? Die Müdigkeit senkte sich auf ihn.
Michael schüttelte ihn an der Schulter. Jan war sofort wach. Es war noch dunkel. Das Unwetter hatte nachgelassen. „Komm rüber“, raunte Michael mit einer Stimme, die Jans Puls in die Höhe trieb. Jan sprang auf, streifte sich hastig Hosen und Pulli über und hetzte ins Jungenzimmer. Eine Taschenlampe lag in der Mitte des Raumes und beleuchtete ein Bett, an dessen Rand Laura saß, den Rücken zur Tür.
Jan taumelte vorwärts. Zum Bett – aus dem ihm Greg entgegenstarrte. Doch der Blick sprang über ihn hinweg, ohne ihn wahrgenommen zu haben, zuckte von links nach rechts, irrte von oben nach unten, ohne Unterlass, während sich die Augenränder immer wieder verkrampften.
Laura hielt Gregs Kopf und weinte.
Mehr als jemals zuvor wünschte sich Jan weit weg.
„Er saß im Flur“, sagte Michael. „Ich habe ihn eben gefunden. Anna reagiert nicht. Willst du nicht –“
Jan hatte auf dem Absatz kehrt gemacht. Annas Tür ließ sich öffnen, er trat ein. Der Gestank von Kot und Urin war hier noch stärker als im Jungenzimmer. Anna lehnte am offenen Fenster, den Kopf in der Nacht.
Jan schloss die Tür und blieb stehen. „Was hast du getan?“
Hatte sie ihn überhaupt wahrgenommen? Der Wind trieb den Regen gegen sie, eine Pfütze hatte sich unter dem Fenster gebildet. Er trat hinter sie, spürte das kalte Wasser an seinen nackten Füßen, streckte eine Hand nach ihrer Schulter und verharrte in der Luft.
„Ich musste es tun.“
„Anna, schau mich an!“
Sie drehte sich um. Ihre Züge waren verzerrt, ihre Augen gerötet. Jans Entsetzen über ihre Tat war ausgelöscht von der Angst, dass Greg sie in seiner Gewalt gehabt haben könnte. Sie warf sich ihm in die Arme und krallt sich an ihn, krallte ihre Finger in seinen Rücken und schrie in seine Brust.
7. Tag
Jan warf der schlafenden Anna einen traurigen Blick zu, ging die Treppe hinunter und durch den abgedunkelten Salon. Draußen dämmerte es. Unter dem Geländer klemmte ein Liegestuhl, die übrigen fehlten. Ein Baum am Waldrand war metertief gespalten, seine verkohlte Krone lag auf der Wiese zwischen anderem Geäst. Nebelschleier trieben darüber hinweg. Die feuchte Luft roch nach Erde, Moos und Holz.
Benommen und zugleich seltsam klar stapfte er über den schlammigen Untergrund zur Rückseite des Hauses. Dort fand er ein Filetiermesser, eine durchweichte Streichholzpackung, einen roten Kerzenstummel und ein mit Wachs betropftes T-Shirt. Er sammelte alles ein, vergrub es notdürftig im Wald und kehrte zum Haus zurück.
Als er die Hand nach der Tür ausstreckte, öffnete sie sich und Michael erschien mit dem Gewehr. „Da bist du! Mensch, du kannst doch nicht einfach so alleine rausgehen. Wir haben oben im Bad einen Topf hingestellt, den kippen wir danach aus dem Fenster.“
„Ich war gar nicht auf dem Klo. Ich musste nur raus aus dem Haus, ich hab‘s nicht mehr ausgehalten.“ Jan biss die Zähne zusammen. Er konnte sich nicht länger damit herausreden, dass er Michael nur im Irrtum ließ. Nun log er unbestreitbar.
„Ich verstehe dich, mir geht‘s genauso. Komm, setzen wir uns für einen Moment auf die Veranda. Ich hol uns zwei Stühle. Der Verrückte wird genug vom Foltern haben und sich ausschlafen.“
„Ich würde gerne, aber wenn Anna aufwacht ...“
„Jenny ist an ihrem Bett.“ Michael ging in den Salon und kam mit zwei Stühlen wieder. Sie nahmen
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