Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
sich. Im Laufschritt schob Anna eine junge Krankenschwester vor sich her, kaum älter als sie und so bleich wie ihr Kittel. Den Kopf hielt die Frau nach hinten überstreckt, im vergeblichen Versuch, der Schere in Annas Hand zu entfliehen. Das Blut rann über ihren Hals, tränkte ihren Kragen und den Ärmel von Annas hellblauem Schlafanzug.
Direkt neben dem Kopf der panischen Geisel schwebte Annas unheimliches Gesicht. Ihre aufgeplatzte Augenbraue war von einem Klebeverband verdeckt, unter dem eine Schicht Mull liegen musste, so weit beulte er sich aus. Das Auge selbst war fast zugeschwollen, ihre Lippe schien genäht worden zu sein. Jan spürte einen blitzartigen Schauer bei der Vorstellung, dass jemand eine Nadel durch ihre Lippe gestochen hatte.
„ Bleibt weg oder ich steche sie ab!“, schrie Anna. Es war eine fürchterliche Stimme, Annas und doch nicht ihre, ein wenig tiefer, weit entfernt von der Hysterie, mit der die Empfangsdame zuvor die Anwesenden alarmiert hatte.
Die Gruppe, die vor dem Ausgang geplaudert hatte, war auseinandergestoben, nur ein rundlicher Herr mit grauem Haarkranz rührte sich nicht vom Fleck.
„ Weg! Weg!“, schrie die Empfangsdame mit überschlagender Stimme. „Sie hat eine Waffe!“
Eine zierliche Kollegin zerrte den Erstarrten zur Seite und Anna hastete mit ihrem Opfer nach draußen.
Jan löste sich aus seiner Erstarrung und wollte ihr nach. Herr Benounes hielt ihn zurück und rief laut in den Raum: „Lasst sie fliehen! Bleibt hier!“
Die zierliche Dame war bereits zum Fenster geeilt und hatte die Hände an die Scheiben gelegt, um das Innenlicht abzuschirmen. Sie meldete, dass die Geisel allein am Boden liege. Der ganze Trupp stürzte nach draußen, Jan folgte wie in Trance. Etwas in ihm wollte Anna nachlaufen, aber seine Angst war stärker. Wieso hatte sie die Krankenschwester geschnitten? Vielleicht hatte die sich gewehrt – oder Anna hatte ihre Entschlossenheit demonstrieren wollen, damit sich ihr keiner in den Weg stellte. Es gab noch eine andere Erklärung, und die passte zu der Art, mit der sie die Kücheneinrichtung zertrümmert hatte, bevor sie zum Angriff übergegangen war: Sie wollte mit ihrer Gewalt etwas ausdrücken, ihre Wut herauslassen, die sie zuvor in sich verschlossen hatte.
Mehrere Personen knieten um die Verletzte und versorgten sie aus einem Erste-Hilfe-Koffer. Bald darauf wurde sie auf eine Trage gelegt. Alle zogen sich ins Gebäude zurück und nahmen auch Jan mit. Er setzte sich auf seine Bank. Irgendjemand redete ihm zu, er bekam es nicht recht mit.
Jan verlor das Interesse an all den hektischen Vorgängen und nahm nur vage wahr, wie sich das Heulen einer Sirene näherte, ein Streifenwagen vor dem Krankenhaus hielt, zwei Polizisten heraussprangen und an die Außentür klopften, die sich nun nicht mehr automatisch öffnete. Wie sich etwas später die lange Gestalt des Kommissars aus einem der Streifenwagen zwängte und mit Herrn Benounes in dem Besprechungsraum verschwand, in dem Jan nach seiner Ankunft versucht hatte, dem bärtigen Assistenzarzt Informationen über Anna zu entlocken.
Stattdessen gingen Jan alle möglichen Dinge durch den Kopf, ohne dass er recht wusste, welche, es war ein betäubtes Treiben an der Oberfläche seines Bewusstseins.
Ein Polizist forderte ihn auf, an seinem Platz zu bleiben. Nach einer Viertelstunde kam der Kommissar auf ihn zu und stellte sich direkt vor ihm auf, eine Hand an die Säule neben ihm gelehnt. Jan fühlte sich eingeengt.
„ Entschuldigen Sie, Herr Reber, ich habe Sie zu Unrecht des versuchten Mordes verdächtigt. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Ihre Freundin die Tat begangen hat. Wussten Sie davon?“
Jan murmelte nur: „Lassen Sie mich.“
„ Behinderung von polizeilichen Ermittlungen, Mitwisserschaft, vielleicht gar Beihilfe zum Mord?“ Der Kommissar stieß sich von der Säule ab und setzte sich neben Jan. „Ich bin der Letzte, der Sie deswegen strafrechtlich belangen will. Ich will nur, dass Sie uns helfen, Anna Herrera zu fassen. Sie ist gefährlich! Ihr erstes Opfer, Rainer Spoerl, schwebt immer noch in Lebensgefahr. Sie waren ihr zweites Opfer und konnten sich nur im letzten Moment retten. Das dritte Opfer haben Sie eben gesehen. Die Krankenschwester hat eine tiefe Schnittwunde davongetragen.“ Er zog seinen spitzen Zeigefinger unter Jans Kinn hindurch, da, wo das Fleisch zwischen den Kieferknochen am verletzlichsten war. „Wollen Sie, dass sie noch mehr Menschen
Weitere Kostenlose Bücher