Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Das Licht, das nach oben Richtung Loch zurückstrahlte, zeigte das typische Muster von Mauerwerk, wie bei einer eingestürzten Wand in einem alten, verlassenen Haus.
Von unten hörte man ein lautes, erleichtertes Keuchen. »Mein Gott, ist das kalt«, rief Curtis. Er hatte trockenes Land erreicht.
»Hey«, schrie Septimus. »Seht euch das an.«
Prue hängte den Kopf noch weiter in das Loch und machte die schwankende Gestalt der Ratte aus. Das Laternenlicht war trüb, aber es reichte, um den Raum zu erhellen. »Das ist eine Art Gewölbe. Menschengemacht!« Prue befühlte die Bruchstelle im Tunnelboden, spürte die kühle, feuchte Rauheit der Mauersteine. Sie musste in ihrer Untersuchung wohl übereifrig geworden sein, denn der Mörtel geriet erneut ins Bröckeln, und Prue krachte mitsamt Ratte, Seil, Rucksack und Laterne in den See.
Es war eisig. Curtis ’ Geschrei war eher noch untertrieben gewesen. Prue fühlte einen Blitz durch ihren gesamten Körper zucken, von Kopf bis Fuß, als sie ins Wasser tauchte. Die Laterne verlöschte sofort, und es war, als hätte jemand einen schwarzen Schleier über die Welt geworfen. Einen Moment lang trieb sie in der dunklen Flüssigkeit, spürte, wie das eiskalte Wasser durch jede Falte ihrer Kleidung drang. Sie konnte sich nicht rühren, wie ein Insekt aus der Vorzeit, das im Bernstein eingeschlossen ist. Und dann schoss sie an die Oberfläche und schnappte nach Luft.
»PRUE!«, hörte sie Curtis rufen.
Das Atmen fiel ihr schwer, ihr gesamter Körper brannte vor scharfem, kaltem Schmerz. Sie hickste und röchelte.
»Hierher!«, brüllte Curtis, und Prue schwamm verzweifelt auf das Geräusch zu.
»Ich kann nichts sehen!«
»Hier drüben! Folge meiner Stimme!«
Sie paddelte mit ganzer Kraft, bis endlich einer ihrer Armzüge auf Fels traf und sie Curtis ’ Hand auf dem Arm spürte, die sie ans Ufer hievte. Wasser strömte aus ihren Haaren, ihre Haut fühlte sich an wie von einer Million Nadelstichen gepikt. Sie zitterte ganz furchtbar.
»Septimus!«, rief Curtis, sobald Prue in Sicherheit war. In der Mitte des Gewölbes war ein panisches Platschen zu hören.
»Hilfe!«, schrie die Ratte. »Die Laterne!«
Ohne zu zögern sprang Curtis wieder in den See. Als er bald darauf keuchend wieder auftauchte, hing Septimus auf seinem Rücken. Die Ratte hustete und spuckte Wasser, das Seil immer noch um den Bauch gebunden, die Laterne immer noch fest in den Pfoten.
Endlich saßen alle drei an Land, wurden aber in der kalten unterirdischen Luft von heftigem Schüttelfrost gepackt. Sie drängten sich dicht aneinander, um sich zu wärmen, so gut es ging. Mit zitternden Fingern öffnete Curtis die Laterne und befühlte den durchweichten Docht. Prue suchte währenddessen den gewachsten Baumwollbeutel, in dem sie die Streichhölzer aufbewahrte, und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sie tatsächlich trocken geblieben waren. Sie reichte Curtis die Schachtel, und nach einigen Schwierigkeiten gelang es ihm, eines anzuzünden. Leider war der Docht viel zu nass.
»Lass mich mal probieren«, sagte Prue. Sie holte ein Fläschchen Petroleum aus dem Rucksack und goss das Wasser, das sich in der Laterne gesammelt hatte, aus. Im Anschluss füllte sie neues Petroleum ein, tränkte den Docht damit und hielt ein Streichholz an den Stoff. Zu ihrer Erleichterung fing er Feuer. Warmes Licht leuchtete hinter dem Glas auf.
In dem flackernden Schein konnten sie endlich das Gewölbe begutachten, in dem sie sich befanden: Die von uralten Flechten überwachsenen Mauern erhoben sich von dem dunklen See bis zu einem gewölbten Scheitelpunkt, wo ein ziemlich großes Loch – eben jenes, durch das sie gestürzt waren – herausgebrochen war. Eines war auf den ersten Blick klar: Dieser Raum war von Menschen – oder Tieren – erbaut worden. Stumm folgten die drei dem Laternenschein, der Stück für Stück das Mauerwerk eines vergessenen Jahrhunderts, geschaffen von einem vergessenen Steinmetz, enthüllte, bis er schließlich auf einen Türbogen fiel, nur wenige Meter von ihnen entfernt.
FÜNFZEHN
Ein Ort der Zuflucht und
des Trostes
D er Plattenspieler wurde aus seinem Grab im Wandschrank der Diele befreit und in Gang gesetzt, die Lautsprecherboxen aus ihrem Fegefeuer als Beistelltischchen erlöst und in Position geschoben. Eine Lieblingsschallplatte, Betty Wells’s All-Time Favorite Two-Steps , wurde aus dem Schrank gekramt und auf den sich drehenden Plattenteller gelegt. Die einsamen Klänge einer
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