Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

winterlicher Pflanzen geschmückt: dem sanften Weiß der Schneebeeren, dem hellen Rot der Stechpalmenfrüchte und dem blassen Grün der Disteln. All diese liebevoll zusammengestellten Einzelheiten bildeten eine Art Bett. Verzweifelt sah Prue Timon an und krächzte: »Ist es das?«
    Und die Antilope nickte mit tränenerfüllten Augen.
    Da erregte ein Flackern am Rande der Lichtung ihre Aufmerksamkeit. Eine Prozession näherte sich, Gestalten in langen Gewändern mit Fackeln traten aus den Bäumen auf die Wiese, stellten sich hintereinander auf und schritten auf das Moosbett zu. In der Mitte liefen einige unter dem Gewicht einer Bahre gebeugt, auf welcher offenbar der verhüllte Körper einer Frau lag. Wie versteinert beobachteten Prue und Curtis diese feierliche Prozession. Als die ersten an dem Moosbett ankamen, traten sie zur Seite, sodass sie allmählich einen Halbkreis bildeten. Alle gingen schweigend, den Blick zu Boden gerichtet.
    Nun wurde die Bahre abgestellt. Der Körper war in eine einfache Decke gewickelt, und als einer der Mystiker sie zurückschlug, wurde Iphigenias Gesicht enthüllt.
    Die Augen der Ältesten Mystikerin waren friedlich geschlossen, ihr Gesicht, blass und reglos, hatte einen Ausdruck stiller Anmut. Sie sah aus, als hätte sie gerade eine angenehme Mahlzeit eingenommen und ruhte sich jetzt aus. Unvermittelt kamen Prue die Tränen, als die Zeremonie fortgesetzt wurde.
    Sobald Iphigenia auf das Lager gebettet worden war und die Fackeln tragenden Mystiker sich darum aufgestellt hatten, tauchte eine weitere Gruppe Trauernder am Rande der Lichtung auf: die Schüler. Sie hatten verschiedene Gegenstände dabei, Decken und Gewänder, Papiere und Pflanzen. Prue vermutete, dass es sich dabei um Habseligkeiten der Ältesten Mystikerin handelte, die aus ihrem Heim gebracht wurden. Alles wurde sorgfältig um Iphigenias Körper herum abgelegt. Viele der Schüler berührten liebevoll den Saum ihrer Decke, ehe sie zurücktraten und sich in die Umstehenden einreihten.
    »Ich kann das nicht fassen«, flüsterte Curtis. »Ich hab sie doch gerade noch gesehen. Sie war so … lebendig.«
    Prue wischte sich mit dem Ärmel Tränen aus den Augen. »Ich wünschte, ich hätte sie noch einmal sehen können«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte wenigstens mit ihr sprechen können.«
    Curtis legte den Arm um Prues Schultern, und sie beide ließen ihren Tränen freien Lauf.
    Einer der Mystiker, ein älterer Mann mit langem geflochtenem Haar und einem weiß gefleckten Bart, trat vor. Er lief zu dem Lager und legte eine Hand sanft auf Iphigenias Körper, dann drehte er sich zu der Menge um und sprach.
    »Heute Abend geben wir das Gefäß Iphigenias dem Wald zurück, da ihr Geist bereits vom Kosmos aufgenommen wurde. Und mit ihr gehen auch die äußeren Zeichen ihres irdischen Lebens.« Seine Stimme klang ruhig, gütig.
    Als er jetzt den umstehenden Mystikern zunickte, setzten sich nach und nach alle im Lotossitz auf den Boden. Den Mittelpunkt des Halbkreises bildete ein kleiner Junge, ein Schüler. Dann begannen sie, zu meditieren. Prue legte sich die Hand an die Lippen, die Augen noch immer voller Tränen.
    Unter dem Lager zu Füßen des Baumes ertönte plötzlich ein Geräusch, eine Art erdiges Reißen, Gras und Farne im Umkreis gerieten ins Wogen. Prue spürte einen Energiestrom durch den Boden zu ihren Füßen schießen, sie konnte nun alle Pflanzen der Lichtung ihre traurige Totenklage anstimmen hören.
    AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA .
    Der Ton stammte von jedem Grashalm, jedem Ast und jedem Zweig. Das Moosbett erzitterte. Der Boden bebte. Kleine Wurzelranken sprossen seitlich des Lagers empor und schufen einen netzartigen Kokon, bevor die Erde sich auftat und der Körper von Iphigenia, Ältester Mystikerin von Nordwald, von ihr verschlungen wurde.
    Die Welt war still.
    Hinterher erwachten die Schüler und Mystiker aus ihrer Meditation. Prue blieb weiterhin wie gelähmt und starrte den jungfräulichen Boden an, auf dem eben noch Iphigenia gelegen hatte. Curtis fasste sie am Arm. »Wahnsinn«, sagte er.
    Der Junge, der den Mittelpunkt des Meditationshalbkreises gebildet hatte, stand inzwischen etwas abseits, gerade außerhalb des Lichtkreises der Fackeln. Prue bemerkte, dass er sie beobachtete.
    Nach einer Weile verließen die versammelten Mystiker und Schüler nach und nach ihre Plätze und mischten sich unter die Menge. Prue sah, dass viele Bürger der nahen Stadt sowie Bauern eingetroffen waren und in höflichem