Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Abstand der Zeremonie beigewohnt hatten. Jetzt standen alle zusammen, und eine heitere Stimmung verdrängte die bis dahin herrschende traurige Ernsthaftigkeit. Hier und da erschien ein Lächeln auf einem Gesicht. Hände wurden herzlich geschüttelt, Menschen umarmten sich. Prue sah sich um und entdeckte Timon nicht weit entfernt im Gespräch mit einigen der jüngeren Schüler. Sie legte ihm die Hand auf die Seite.
»Ah, Prue.« Er lächelte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So untröstlich ich auch bin, ich bin trotzdem froh, dass wir rechtzeitig gekommen sind. Ungeachtet der Umstände.«
»Ja«, sagte Prue. »Danke, dass du uns so weit getragen hast.« Sie stockte, fand keine Worte. Doch dann platzte sie heraus: »Ich bin so verwirrt! Jetzt bin ich extra hergekommen, weil ich einen merkwürdigen Sog gespürt habe, einen Ruf . Ich war mir ganz sicher, dass sie es war, die mich irgendwie angezogen hat. Und jetzt bin ich hier, und sie ist fort. Ich meine, was soll ich denn jetzt machen?«
»Es wird sich offenbaren«, sagte Timon. »Es wird sich offenbaren. Daran hege ich keinen Zweifel.«
Curtis stellte sich zu ihnen. »Wohin gehen wir denn jetzt?«, wollte er wissen.
»In der Großen Halle wird es ein großes Essen geben«, sagte Timon. »Selbst in Zeiten der Rationierung erfordert eine Totenwache eine Zusammenkunft. Glaubt ihr, es wäre ungefährlich für euch, teilzunehmen?«
Septimus, der auf Curtis ’ Schulter saß, mischte sich ein. »Ich schätze mal, das ist der letzte Ort, an dem sie nach euch suchen. Niemand bei Verstand würde tun, was ihr getan habt. Ich meine, man muss ja schon ernsthaft eine Schraube locker haben, um an den Tatort des Auftragskillers zu kommen, der auf einen angesetzt ist.«
»Danke«, sagte Prue.
»Ich sag nur, wie’s ist.«
»Oder es ist eine Falle«, meinte Curtis. »Vielleicht haben sie sich gedacht, dass wir die Reise wagen. Aber es stimmt schon: Eigentlich ist das nicht besonders einleuchtend. Sie können nicht wissen, warum wir gekommen sind.«
»Genau«, sagte Prue. »Und darüber grübele ich gerade nach.« Sie blickte an den Umstehenden vorbei zum Baum. Der Fackelschein zuckte hellgelb über den knorrigen Stamm.
Warum hast du mich hergerufen?
Allmählich leerte sich die Wiese. Die Träger der Fackeln gingen voran zum östlichen Rand der Lichtung. »Geht ihr schon mal vor«, sagte Prue. »Ich komme gleich nach. Ich finde den Weg schon.«
Die anderen drei, Septimus, Timon und Curtis, folgten den Trauergästen, und Prue sah ihnen nach. Eine Schwere hatte sich in ihrem Brustkorb festgesetzt. Sie lief um den Baum herum auf die der Begräbnisstätte abgewandte Seite. Dort gab es eine kleine Nische, die von einem besonders dicken Arm der frei liegenden Wurzeln des Baumes gebildet wurde. Prue legte beide Hände auf das kalte, schweigende Holz und schloss die Augen.
Was ist? Warum bin ich hier?
Es kam keine Antwort. Falls der Baum ihr gerade etwas mitteilte, war sie nicht in der Lage, seine Gedanken zu erfassen.
Was soll ich tun?
»Du hast einen weiten Weg hinter dir.«
Prue schlug die Augen auf. Die Stimme kam nicht aus ihrem eigenen Kopf; nein, sie war hinter ihr. Sie drehte sich um und entdeckte einen kleinen Jungen, vielleicht sieben Jahre alt, der dort mit einer kurzen, brennenden Kerze in der Hand stand. Er trug das braune Hanfgewand der Mystiker.
»Und du hast dich in sehr große Gefahr gebracht«, sagte er. Jetzt erkannte Prue ihn als den Jungen, der vorhin in der Mitte der Meditierenden gesessen hatte. Seine Stellung musste sehr hoch sein, um eine solche Verantwortung übertragen zu bekommen. Als er näher kam, fiel Prue auf, dass er seitlich an ihr vorbeiblickte.
»Bist du ein Mystiker?«, fragte sie. Als der Junge nickte, fügte sie hinzu: »Du bist so jung!«
»Ich bin ein Jährling.« Immer noch sah er sie nicht an. »So nennt man uns. Die jüngeren Schüler.«
»Wie heißt du?«
»Ich bin Alister. Und du bist Prue.«
Das Verhalten des Jährlings brachte Prue etwas aus dem Konzept. Er kümmerte sich offenbar nicht groß um Förmlichkeiten.
»Kanntest du die Älteste Mystikerin?«, fragte er.
»Ja. Sie war, tja, man könnte wohl sagen, eine Freundin. Obwohl ich sie nicht so gut oder so lange kannte. Trotzdem war sie mir wirklich wichtig.«
»Mir auch, aber jetzt ist sie tot.« Die Miene des Jungen verriet keine Empfindung bei dieser abrupten Feststellung. Jetzt schweifte sein Blick noch weiter weg, zum Baum. Einen Moment lang schwieg er.
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