Will Trent 01 - Verstummt
heiße Tränen in seinen Augen brennen. Man musste sie zudecken. Sie sollte nicht vor jedermanns Augen so entblößt daliegen.
Der Leichenbeschauer bückte sich, drückte den Unterkiefer nach unten und spähte in den leeren Mund. Er sagte: »Ihre Zunge ist verschwunden.«
»O Gott«, murmelte einer der Polizisten. »Das ist doch noch ein Kind.«
Michael schluckte, er hatte das Gefühl, an seinem Kummer zu ersticken. »Fünfzehn«, sagte er. Sie hatte letzte Woche Geburtstag gehabt. Er hatte ihr eine Plüschgiraffe geschenkt.
»Sie ist fünfzehn.«
TEIL II
Kapitel 7
2. Oktober 2005
John Shelley wollte einen Fernseher. Seit zwei Monaten arbeitete er schon in diesem beschissenen Job, kam jeden Morgen pünktlich und war immer der Letzte, der nach Hause ging. Er machte jede pusselige Scheißarbeit, die sein Chef ihm auftrug, und jetzt ging es für ihn nicht mehr nur darum, einen Fernseher zu wollen, sondern einen zu verdienen. Nichts Hypermodernes, nur einen mit Farbe, einen mit einer Fernbedienung und einen, mit dem er die Collegespiele empfangen konnte.
Er wollte seine Teams spielen sehen. Er wollte die Fernbedienung in der Hand halten, und wenn Georgia schlecht spielte, was sehr wahrscheinlich war, dann wollte er umschalten können, um zu sehen, wie Florida einen Arschtritt bekam. Er wollte die miserablen Halbzeitshows sehen, die blöden Kommentatoren hören, Tulane im Southern Mississippi, Texas A&M im LSU, Army-Scheiß-Navy sehen. Zu Thanksgiving wollte er sich eine ganze Orgie von Bowlspielen reinziehen, und dann würde er zu den Großen umschalten: die Patriots, die Raiders, die Eagles, und das alles würde schließlich zu diesem magischen Augenblick im Februar führen, da John Shelley in seinem Scheißzimmer in seiner Pension sitzen und zum ersten Mal in seinem ganzen Leben den verdammten Superbowl allein anschauen würde.
Sechs Tage pro Woche hatte er in diesen letzten zwei Monaten zum Busfenster hinausgeschaut und sehnsüchtig das Atlanta City Rent-All angestarrt. Das Schild im Fenster versprach: »Ihr Job ist Ihr Kredit«, aber das Sternchen, so winzig, dass man es für Fliegenschiss hätte halten können, erzählte etwas anderes. Gott sei Dank war er zu nervös gewesen, um einfach in den Laden zu latschen und einen Narren aus sich zu machen. John hatte vor der Tür gestanden, und sein Herz zitterte wie ein Hund, der Pfirsichkerne schiss, als er das Kleingedruckte auf dem Plakat entdeckte. Zwei Monate, stand dort in winziger Schrift. Zwei Monate lang musste man einen festen Job haben, und erst dann gewährten sie einem die Ehre, zweiundfünfzig Wochenraten zu zwanzig Dollar für einen Fernseher zu bezahlen, den man in einem normalen Laden für ungefähr dreihundert bekam.
Aber John war kein normaler Mensch. Trotz seines neuen Haarschnitts, der immer glattrasierten Wangen und seiner gebügelten Hose spürten die Leute, dass etwas anders war an ihm. Sogar in der Arbeit, einer Autowaschanlage, wo meist nur Laufkundschaft auftauchte, um Pkw zu wienern oder Cheerios von den Rückbänken von Geländewagen zu saugen, blieben die Leute auf Distanz.
Und jetzt, zwei Monate später, saß John auf der Stuhlkante, versuchte, seine Beine ruhig zu halten, und wartete auf seinen Fernseher. Der Jugendliche mit dem Pickelgesicht, der ihn an der Tür empfangen hatte, ließ sich Zeit. Er hatte Johns Antrag entgegengenommen und war dann vor ungefähr zwanzig Minuten nach hinten geeilt. Antrag. Das war noch etwas, das auf dem Plakat nicht erwähnt wurde. Adresse, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer, Arbeitsstelle, alles bis auf die verdammte Unterwäschegröße.
Für einen Sonntagnachmittag war es im Atlanta City Rent-All ziemlich laut. Alle Fernseher liefen, bunte Bilder, die an einer Wand aus Röhren flackerten, und in seinen Ohren summten gedämpfte Stimmen aus Natursendungen, Nachrichtenkanälen und Heimwerkerprogrammen. Die Geräusche gingen ihm langsam auf die Nerven. Durch die deckenhohen Fenster strömte zu viel Licht herein. Die Fernsehbilder waren zu grell.
Er rutschte auf seinem Stuhl herum, spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. John hatte keine Armbanduhr, aber an der Wand hing eine große Uhr. Das war keine gute Idee des Ladeneinrichters, wenn man sich überlegte, dass sie nur dazu diente, die Leute daran zu erinnern, dass sie hier ergeben warten mussten, bis irgendein Knabe frisch aus der Highschool dem glücklichen Kunden verkündete, dass er die außerordentliche Ehre habe,
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