Will Trent 01 - Verstummt
antwortete Michael und stieß sich vom Auto ab. »Sie sind wirklich ein verdammt komischer Vogel.«
Trents Handy bimmelte, und in Michael stieg wieder Verärgerung auf, als Trent sich ein paar Schritte entfernte, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Ja, Sir«, sagte Trent. »Ja, Sir.«
Michaels Blick wanderte zum Himmel, wo dunkle Wolken sich zusammenballten. So wie es aussah, würde ein Gewitter losbrechen, kaum dass sie die Homes verlassen hatten. Dann müsste er durch die Pfützen auf dem Parkplatz stapfen und würde sich die neuen Schuhe ruinieren.
Trent klappte sein Handy zu und steckte es in die Westentasche. »Sie müssen nach Hause, Michael.«
Michael blieb beinahe das Herz stehen. »Was ist los?«
»Sie müssen nach Hause«, wiederholte Trent. »Es hat einen Unfall gegeben.«
Decatur City Observer, 22. Juni 1985
VERHAFTUNG IM MORDFALL FINNEY
Die Polizei gab heute Morgen bekannt, dass es im Fall der ermordeten fünfzehnjährigen Mary Alice Finney zu einer Verhaftung gekommen ist. Da es sich bei dem Verdächtigen um einen Jugendlichen handelt, wurde sein Name nicht genannt. Polizeichef Harold Waller beschreibt den Jungen jedoch als Fünfzehnjährigen, dessen Name im City of Decatur Police Department wohlbekannt ist. Zu der Verhaftung kam es, nachdem mehrere Nachbarn den Verdächtigen als den Fremden identifiziert hatten, der Mary Alice Finney von der Party, auf der sie das letzte Mal lebend gesehen wurde, nach Hause begleitet hatte. Waller gibt an, dass ein volles Geständnis erwartet werde in diesem, wie er es nannte »abscheulichsten Verbrechen«, das er in seiner Laufbahn je gesehen habe.
Der Vater des Mädchens ist Paul Finney, ein hochangesehenes Mitglied der Anwaltskammer und stellvertretender Bezirksstaatsanwalt für das DeKalb County. Mutter Sally Finney, Hausfrau, ist aktiv in der Woman's League und war als Spendensammlerin für das Agnes Scott College tätig. Das Paar hat keine weiteren Kinder. Um 20 Uhr 30 wird heute Abend auf dem Square eine Mahnwache bei Kerzenschein abgehalten, und morgen Nachmittag findet im Cable Funeral Home ein Begräbnisgottesdienst im engsten Kreis statt. Die Familie bittet anstelle von Blumen um Spenden für die Decatur City Library, in deren Räumen sich Mary Alice Finney sehr gerne aufhielt.
Kapitel 6
Michael fuhr wie der Teufel, die Hände fest ums Lenkrad gekrallt. Trent saß neben ihm und schwieg eisern, auch als Michael rote Ampeln und Stoppschilder überfuhr. Das Haus war weniger als zwanzig Minuten von den Grady Homes entfernt, aber Michael erschien es wie Stunden. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er konnte an nichts anderes denken als an die schrecklichen Dinge, die er seiner Familie angetan hatte, und dass er sie gar nicht verdiente, dass er sein Verhalten, sein ganzes Leben ändern würde, wenn nur Tim okay wäre.
»Scheiße!« Michael riss das Lenkrad scharf nach links und wich nur knapp einem Chevy Blazer aus, der Vorfahrt hatte.
Trent hielt sich am Türgriff fest, aber er war nicht so dumm, langsameres Fahren vorzuschlagen.
Michael richtete das Lenkrad wieder aus und bog links in eine Nebenstraße ein, die nicht ganz so verkehrsreich war und sie vielleicht schneller ans Ziel brachte. Die Kupplung machte Schwierigkeiten, fing sich aber gleich wieder, als er aufs Gas trat. Auf dem Armaturenbrett blinkte eine Warnlampe, die Motortemperatur stieg in den roten Bereich. Er wollte doch nur, dass dieses Scheißauto ihn bis zum Haus brachte. Mehr wollte er gar nicht.
Er drückte noch einmal die Wahlwiederholung auf seinem Handy und hörte das Telefon in seinem Haus zum fünfzigsten Mal läuten. Barbaras Handy hatte keinen Empfang, und Gina hatte er im Krankenhaus nicht erreichen können.
»Verdammt!«, kreischte Michael und knallte das Handy aufs Armaturenbrett, dass es zersprang.
Greer hatte Will Trent angerufen und ihm gesagt, dass ein Problem aufgetreten sei, dass es bei Michaels Haus eine Art Unfall mit einem Kind gegeben habe. Scheiß übliche Vorgehensweise: Sag ihnen am Telefon
nichts, erschreck sie nicht, damit sie auf der Fahrt zum Schauplatz ihr Auto nicht von einer Brücke lenken. Als Michael Greer anrief, um mehr Details zu erfahren, hatte der Wichser mit ihm geredet, als wäre er zwölf Jahre alt. »Fahr einfach nach Hause, Michael«, hatte Greer gesagt. »Das wird schon alles wieder.«
»Fahrrad«, warnte Trent, und Michael sah den Radler erst in letzter Sekunde, hätte ihn beim Ausscheren auf eine andere Spur beinahe umgefahren. Ein
Weitere Kostenlose Bücher