Will Trent 02 - Entsetzen
Kratzspuren, wo die Tiere ihre Krallen in die Haut gegraben hatten.
»Nein«, flüsterte Will und kroch auf Händen und Knien über die Bodenbretter. Auf Emmas Unterbauch und den Oberschenkeln sah er getrocknetes Blut, geschwollene Striemen an ihrem Hals. Will schlug mit der Taschenlampe nach einer gierigen Ratte, das Herz tat ihm weh beim Anblick des Mädchens. Wie konnte er Paul sagen, dass er seine Tochter in diesem Zustand gefunden hatte? Es gab keinen Verwesungsgeruch, keine Fliegen gruben sich in ihr Fleisch. Wie konnte irgendeiner von ihnen weiterleben mit dem Wissen, dass bei ihr nur wenige Stunden zwischen Leben und Tod entschieden hatten.
»Will?«, fragte Faith, doch er merkte am Ton ihrer Stimme, dass sie wusste, was er gefunden hatte.
»Tut mir leid«, sagte Will zu dem Mädchen. Er konnte ihren starren, leblosen Blick nicht ertragen. Während der ganzen Ermittlung hatte er keinen Augenblick an ihren Tod geglaubt - auch wenn immer mehr Indizien auf das Gegenteil hindeuteten. Er hatte darauf beharrt, dass sie unmöglich tot sein konnte, und jetzt war sein einziger Gedanke, dass sein Hochmut die Wahrheit nur noch unerträglicher machte.
Will streckte die Hand aus, um ihr die Augen zu schließen, er legte ihr die Finger auf die Lider, um sie sanft nach unten zu drücken. »Tut mir leid«, wiederholte er, doch er wusste, dass das nie genug sein würde.
Emmas Augen sprangen wieder auf. Sie blinzelte und schaute dann Will an.
Sie lebte.
21
F aith stand in Emma Campanos Krankenzimmer und schaute Abigail und ihrer Tochter zu. Das Zimmer war dunkel, das einzige Licht kam von den Apparaten, an denen das Mädchen hing. Nährlösungen, Antibiotika, verschiedene Chemikalienmischungen, die alle dazu da waren, ihren Körper wieder gesund zu machen. Ihren Geist konnte jedoch nichts heilen. Kein medizinisches Gerät konnte ihre Seele wiederbeleben.
Als Faith schwanger war, hatte sie insgeheim entschieden, dass das Baby in ihrem Bauch ein kleines Mädchen sei. Blonde Haare und blaue Augen, Grübchen in den Wangen. Faith wollte ihr passende rosa Sachen kaufen und Bänder in die Haare flechten, während ihre Tochter über Schulschwärmereien und Boy Groups und geheime Wünsche redete.
Jeremy hatte diesen Traum ziemlich schnell zerstört. Die Gefühle ihres Sohnes waren eher auf unkomplizierte Dinge wie Football und Actionhelden gerichtet. Sein Musikgeschmack war beklagenswert und kaum der Rede wert. Seine Wünsche waren nicht geheim: Spielzeuge, Videospiele und - zu Faiths Entsetzen - die kleine rothaarige Schlampe, die nur ein paar Häuser entfernt wohnte.
In den letzten Tagen hatte Faith ihre Gedanken zu diesem dunklen Ort wandern lassen, den alle Eltern irgendwann einmal besuchen: Was würde ich tun, wenn das Telefon klingelt, die Polizei an die Tür klopft und irgendein Fremder mir sagt, mein Kind sei tot? Das war das Grauen, das im Herzen jeder Mutter lauerte, diese schauderhafte Angst. Es war wie auf Holz klopfen oder sich bekreuzigen - den Gedanken zuzulassen diente als Talisman dagegen, dass es tatsächlich passierte.
Als Faith Emma nun hier schlafen sah, erkannte sie, dass es Schlimmeres gab, als einen solchen Anruf zu bekommen. Man konnte sein Kind zurückbekommen, aber seine Identität - sein Wesen - konnte verschwunden sein. Die Qualen, die Emma durchlitten hatte, waren ihrem Körper eingeschrieben: die Quetschungen, die Kratzer, die Bissspuren. Warren hatte sich viel Zeit genommen mit dem Mädchen, hatte jede kranke Fantasie ausgelebt, die ihm in den Sinn gekommen war. Er hatte ihr weder Essen noch Wasser gegeben. Emma war gezwungen, in dem Zimmer, in dem sie schlief, auch Blase und Darm zu entleeren. Sie war an Händen und Füßen gefesselt worden. Immer wieder war sie bis zur Bewusstlosigkeit stranguliert und dann wiederbelebt worden. Sie hatte so viel geschrien, dass ihre Stimme jetzt nur noch ein heiseres Flüstern war.
Faith konnte nicht anders. Sie hatte nicht mit dem Mädchen, sondern mit der Mutter Mitleid. Sie dachte an das, was Will vor einigen Stunden gesagt hatte, nämlich dass Evan Bernard Mary Clark so gut wie getötet hatte. Jetzt gab es zwei Emma Campanos - die vor Warren und die danach. Das kleine Mädchen, das Abigail gehegt und gepflegt und mit dem sie gespielt hatte, das hübsche Kind, das sie in der Früh in die Schule und an Wochenenden ins Kino und in Einkaufszentren gebracht hatte, war verschwunden. Übrig war nur noch die Schale dieses Mädchens, ein leeres Gefäß, das
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