Will Trent 02 - Entsetzen
völlig von der Seite. Er konnte links nicht von rechts unterscheiden. Er konnte sich nicht mehr als eine Stunde lang auf eine Seite konzentrieren, ohne rasende Kopfschmerzen zu bekommen. An guten Tagen konnte er lesen wie ein Zweitklässler. Schlechte Tage waren unerträglich. Wenn er müde oder aufgeregt war, verwirbelten die Wörter wie Treibsand.
Im Jahr zuvor hatte Amanda sein Problem herausgefunden. Will wusste nicht so recht, wie sie es herausgefunden hatte, aber sie direkt zu fragen würde nur ein Gespräch eröffnen, das er nicht führen wollte. Für seine Berichte benutzte er Spracherkennungs-Software. Vielleicht verließ er sich zu sehr auf die Rechtschreibprüfung des Computers. Oder vielleicht hatte Amanda sich gewundert, warum er für seine Aufzeichnungen ein digitales Diktiergerät benutzte und nicht ein altmodisches Spiralheft wie alle anderen Polizisten. Dass sie es wusste, war eine Tatsache, und das machte seine Arbeit sehr viel schwieriger, weil er beständig beweisen musste, dass er kein Fehlgriff war.
Er war sich noch immer nicht sicher, ob sie ihm Faith Mitchell zugewiesen hatte, damit diese ihm half, oder weil gerade Mitchell mit sehr wachen Augen darauf schauen würde, ob mit ihm etwas nicht stimmte. Falls je bekannt wurde, dass Will praktisch Analphabet war, würde er nie wieder eine Ermittlung leiten können. Wahrscheinlich würde er seinen Job verlieren.
Er wollte überhaupt nicht daran denken, was er tun würde, sollte das je passieren.
Will stellte den Korb auf den Boden und rieb Bettys Schnauze, um ihr zu zeigen, dass er sie nicht vergessen hatte. Dann schaute er wieder ins Regal. Will hatte gedacht, die Sache wäre einfacher, aber es gab mindestens zehn unterschiedliche Marken, zwischen denen er sich entscheiden musste. Die Schachteln waren alle gleich, bis auf die unterschiedlichen Schattierungen von Blau und Rosa. Einige Logos kannte er aus Fernsehspots, aber in dem im Garten verstreuten Müll hatte er nicht die Schachtel selbst gesehen, sondern nur das kleine Stäbchen, auf das man pinkeln musste. Der Hund, oder was auch immer es war, das in die Tonne gekrochen war, hatte die Verpackung zerfetzt, sodass Will an diesem Morgen nichts anderes tun konnte, als mitten in der Auffahrt zu stehen und ein Ding anzuglotzen, das offensichtlich ein Schwangerschaftstest war.
Es waren zwei Striche darauf, aber was bedeuteten sie? Einige Werbespots zeigten Smileys. Andere Pluszeichen. Würde daraus nicht folgen, dass einige auch ein Minus anzeigten? War sein Blick verschwommen, sodass er zwei Striche anstatt eines einfachen Minuszeichens gesehen hatte? Oder war er so durcheinander gewesen, dass er ein Wort als ein Symbol gelesen hatte. Sagte der Test tatsächlich etwas so Einfaches wie »nein«, und Will hatte es nur nicht verstanden?
Er beschloss, eines von jeder Marke zu nehmen. Wenn der Campano-Fall abgeschlossen war, würde er seine Bürotür abschließen, jede Packung aufreißen und die Stäbchen mit dem aus dem Müll vergleichen, bis er die richtige Marke gefunden hatte, und dann würde er so viele Stunden dasitzen, wie es eben dauerte, um die Bedienungsanleitung zu entziffern, damit er endlich herausfand, was wirklich los war - so oder so.
Betty war in den Korb gesprungen, deshalb steckte Will die Schachteln um sie herum hinein. Er drückte sich den Korb an die Brust, damit sie nicht heraussprang. Betty ließ die Zunge wieder aus dem Maul hängen, als er zur Kasse ging, und ihre kleinen Pfoten lagen auf dem Rand des Korbs, sodass sie fast aussah wie eine Kühlerhaubenfigur. Die Leute starrten ihn an, doch Will war sich ziemlich sicher, es war nicht das erste Mal, dass man in diesem Laden einen erwachsenen Mann im Geschäftsanzug sah, der einen Chihuahua mit pinkfarbener Leine im Arm hielt. Andererseits konnte er fast garantieren, dass er der Erste war, der einen Korb voller Schwangerschaftstests zur Kasse trug.
Als er in der Schlange stand, trafen ihn weitere Blicke. Will betrachtete die Bilder auf den Zeitungen. Das Atlanta Journal hatte bereits eine Frühausgabe gedruckt. Wie auf so ziemlich jeder Zeitung des Landes an diesem Morgen, prangte Emma Campanos Foto oben auf der Titelseite. Will hatte während des Schlangestehens genug Zeit, um die fetten Blockbuchstaben über dem Foto zu entziffern: VERMISST.
Er spürte seine Brust eng werden, als er an all die schlimmen Dinge dachte, die Menschen einander antun konnten. Die Doors, die Kinder, die wieder ins Heim zurückkamen, weil es
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