Will Trent 02 - Entsetzen
mit ihren Pflegeeltern nicht geklappt hatte, erzählten solche Geschichten. Immer und immer wieder wurden sie weggegeben, und bei jeder Rückkehr war ihr Blick leerer. Missbrauch, Vernachlässigung, körperliche Gewalt. Das Einzige, was schwerer zu ertragen war, war das eigene Spiegelbild, wenn man zurückkam.
Betty leckte ihm übers Gesicht. Die Reihe bewegte sich. Die Uhr über der Kasse zeigte 2:15.
Amanda hatte recht. Emma Campano hatte Glück, wenn sie nicht mehr am Leben war.
ZWEITER TAG
5
A bigail Campano fühlte sich, als wäre ihre Tochter noch am Leben. War das möglich? Oder stellte sie eine Verbindung her, die gar nicht mehr existierte, wie ein Amputierter, der einen verschwundenen Arm oder ein verschwundenes Bein spürt, obwohl sie längst nicht mehr da sind?
Wenn Emma tot war, dann war es Abigails Schuld. Sie hatte ein Leben genommen - nicht nur irgendein Leben, sondern das eines jungen Mannes, der versucht hatte, ihre Tochter zu retten. Adam Humphrey, ein Fremder für Abigail und Paul, ein Junge, den sie bis gestern nie gesehen, von dem sie noch nicht einmal gehört hatten, war tot durch ihre Hand. Dafür musste es einen Preis geben. Wenn Abigail sich nur als Opfer darbieten könnte. Sie würde freudig mit Emma den Platz tauschen. Die Qualen, der Schmerz, die Angst - sogar die kalte Umarmung eines flachen Grabs wäre besser als diese dauernde Ungewissheit.
Tatsächlich? Was dachten Kaylas Eltern jetzt im Augenblick? Abigail konnte das Paar nicht ausstehen, hasste ihre Nachgiebigkeit und die vorlaute Tochter, die dadurch produziert worden war. Emma war bestimmt keine Heilige, aber bevor sie Kayla kennenlernte, war sie anders gewesen. Sie hatte nie eine Stunde versäumt oder Hausaufgaben nicht gemacht oder die Schule geschwänzt. Und doch, was würde Abigail zu den Eltern dieses Mädchens sagen: »Ihre Tochter könnte noch am Leben sein, wenn Sie sie von meiner ferngehalten hätten?«
Oder - Töchter.
»Unsere Töchter wären noch am Leben, wenn Sie auf mich gehört hätten.«
Abigail zwang sich zu einer Bewegung, wollte wenigstens versuchen, aus dem Bett aufzustehen. Bis auf die Gänge zur Toilette lag sie seit achtzehn Stunden hier. Sie kam sich blöd vor, weil man ihr ein Beruhigungsmittel hatte geben müssen - wie einem bigotten, älteren Tantchen, das die Schwermut überfiel. In ihrer Nähe bewegte sich jeder wie auf rohen Eiern. Seit Ewigkeiten hatte Abigail so etwas nicht mehr erlebt. Sogar ihre Mutter war am Telefon sehr behutsam mit ihr umgegangen. Beatrice Bentley lebte seit der Scheidung von Abigails Vater vor zehn Jahren in Italien. Im Augenblick saß sie in einem Flugzeug irgendwo über dem Nordatlantik, ihre wunderschöne Mutter, die an ihr Bett eilte.
Adam Humphreys Eltern würden ebenfalls kommen. Was sie erwartete, war kein Bett, sondern ein Grab. Wie würde es sich anfühlen, das eigene Kind zu begraben? Wie würde man sich fühlen, wenn der Sarg in der Erde versank, wenn die Erde das eigene Kind mit Dunkelheit bedeckte?
Abigail fragte sich oft, wie es gewesen wäre, einen Sohn zu haben. Vielleicht dachte sie jetzt wie jemand, der keine Ahnung hatte, aber Mütter und Söhne schienen eine unkomplizierte Beziehung zu haben. Jungs waren leicht zu durchschauen. Mit einem Blick sah man, ob sie wütend oder traurig oder glücklich waren. Sie mochten einfache Dinge wie Pizza und Videospiele, und wenn sie mit ihren Freunden kämpften, ging es nie aufs Blut oder noch Schlimmeres, sondern um Sport. Man hörte nie von Jungs, die Schmähbriefe schrieben oder in der Schule Gerüchte über andere verbreiteten. Ein Junge kam nie weinend nach Hause, weil jemand ihn fett genannt hatte. Na ja, vielleicht schon, aber seine Mutter würde alles wiedergutmachen, indem sie ihm über den Kopf strich und ihm Plätzchen backte. Er würde nicht wegen der kleinsten, eingebildeten Beleidigung wochenlang schmollen.
Abigails Erfahrung nach liebten Frauen ihre Mütter zwar, aber es gab immer etwas, das zwischen ihnen stand. Neid? Vorgeschichte? Hass? Dieses Etwas, was immer es sein mochte, brachte Mädchen dazu, sich eher an ihrem Vater zu orientieren. Hoyt Bentley, zum Beispiel, hatte es genossen, seine einzige Tochter zu verwöhnen. Beatrice, Abigails Mutter, hatte sich geärgert über die verlorene Aufmerksamkeit. Schöne Frauen mochten keine Konkurrenz, auch wenn sie von ihren eigenen Töchtern kam. Soweit Abigail sich erinnerte, war dies das Einzige, worüber ihre Eltern sich je stritten.
»Du
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