Will Trent 02 - Entsetzen
eine dieser privaten Schulen. Gegenwärtig residierte sie in einer Reihe von Gebäuden vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Das ursprüngliche Schulhaus war ein Bretterbau, der eher einer Scheune als sonst etwas ähnelte. Die meisten später errichteten Gebäude waren hoch aufragende Backsteinbauten. Das Hauptgebäude war eine mit Marmor verkleidete gotische Kathedrale, die hier ebenso deplatziert aussah wie Wills 1979er Porsche 911 unter all den neuen Hondas und Toyotas auf dem Lehrerparkplatz.
Will war daran gewöhnt, dass sein Auto auffiel. Vor neun Jahren hatte er die ausgebrannte Karosserie auf einem Leergrandstück an seiner Straße entdeckt. Das war die Zeit, als die meisten Häuser in seiner Nachbarschaft noch Crack-Löcher waren und Will mit der Waffe unter dem Kopfkissen geschlafen hatte, falls jemand mal an der falschen Tür klopfte. Keiner hatte protestiert, als er Räder an das Auto schraubte und es in seine Garage schob. Er hatte sogar einen Obdachlosen gefunden, der ihm für zehn Dollar und einen kräftigen Schluck aus dem Gartenschlauch half, das Ding den Hügel hinaufzuschieben.
Als dann die Crack-Häuser niedergerissen wurden und Familien ins Viertel zogen, hatte Will das Auto komplett wiederhergerichtet. An Wochenenden und in den Urlauben tourte er durch Schrottplätze und Ersatzteilläden auf der Suche nach den richtigen Teilen. Er brachte sich selbst das Wissen über Zylinder und Kolben, Auspuffkrümmer und Bremssättel bei. Er lernte Schweißen und Spachteln und Lackieren. Ohne die Hilfe irgendeines Profis schaffte er es, das Auto in seiner ursprünglichen Schönheit wiederherzustellen. Er wusste, das war eine Leistung, auf die er stolz sein konnte, aber im Hinterkopf hatte er immer das Gefühl, dass er, wenn er fähig gewesen wäre, ein Getriebeschema oder ein Motordiagramm zu lesen, das Auto in sechs Monaten anstatt in sechs Jahren hätte restaurieren können.
Mit dem Campano-Fall war es dasselbe. Gab es da draußen irgendwas - irgendwas Wichtiges, das Will nicht sehen konnte, weil er zu stur war, seine Schwäche zuzugeben?
Will schlug die Morgenzeitung auf dem Lenkrad auf und versuchte es noch einmal mit der Emma-Campano-Geschichte. Adam Humphreys und Kayla Alexanders Fotos waren direkt unter Emmas, und das Ganze unter der Schlagzeile: »TRAGÖDIE IN ANSLEY PARK«. Es gab eine Sonderbeilage über die Familie und die Nachbarschaft zusammen mit Interviews mit Leuten, die behaupteten, enge Freunde zu sein. Tatsächliche Informationen waren kümmerlich und sorgfältig unter dem Sensationsgeschrei versteckt. Will hatte bereits zu Hause angefangen, die Zeitung zu lesen, aber sein Kopf, der vom Schlafmangel bereits schmerzte, explodierte förmlich, als er versuchte, die winzige Schrift zu entziffern.
Doch jetzt hatte Will keine andere Wahl mehr. Er musste wissen, was über den Fall gesagt wurde, welche Details in der Öffentlichkeit bekannt waren. Es war polizeiliche Routine, gewisse Informationen zurückzuhalten, die nur der Mörder wissen konnte. Weil so viele Beamte des Atlanta Police Department am Tatort gewesen waren, hatte es auch das unvermeidliche Leck gegeben. Emmas Versteck im Wandschrank. Die Wäscheleine und das Isolierband im Auto. Das kaputte Handy, das zerdrückt unter Kayla Alexander gelegen hatte. Die große Sensation war natürlich, dass das Atlanta Police Department die Sache vermasselt hatte. Die Presse, eine Organisation, die in dem Ruf stand, routinemäßig Fakten falsch zu interpretieren, war alles andere als nachsichtig, wenn es um die Polizei ging.
Während Will den Zeigefinger unter jedes Wort hielt, um es zu isolieren, damit er die Bedeutung entziffern konnte, war er sich deutlich bewusst, dass derjenige, der Emma Campano verschleppt hatte, wahrscheinlich im Augenblick dieselbe Geschichte las. Vielleicht gab es dem Mörder einen Kick, dass seine Verbrechen auf der Titelseite des Atlanta Journal standen. Vielleicht schwitzte er über jedem Wort so sehr wie Will, weil er versuchte herauszufinden, ob er irgendwelche Spuren hinterlassen hatte.
Vielleicht aber war der Mann so arrogant, dass er wusste, es gab keine Möglichkeit, ihn mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Vielleicht war er jetzt schon wieder auf der Straße und suchte nach seinem nächsten Opfer, während Emma Campanos Leiche in einem flachen Grab verfaulte.
Jemand klopfte ans Glas. Faith Mitchell stand vor der Beifahrertür des Autos. Sie hatte sein Sakko in einer Hand und einen Becher Kaffee
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