Will & Will
scheint sie nämlich jetzt den Eindruck zu haben, du hättest kein Interesse an ihr.«
»Hab ich auch nicht«, sage ich. Was absolut wahr und absolut falsch ist. Das ist die ganze blöde, allumfassende Wahrheit.
»Was glaubst du, wo wir hier sind, im neunzehnten Jahrhundert? Wenn du jemanden magst und umgekehrt auch, dann drückst du verdammt noch mal deine Lippen auf die Lippen vor dir und dann machst du deinen Mund ein wenig auf, und dann berührst du die Zunge mit deiner Zunge, um es prickelnder zu machen. Herrgott, Grayson! Alle scheißen
sich andauernd in die Hose, weil die amerikanische Jugend angeblich nur noch aus sexbesessenen Monstern besteht, die Blowjobs verteilen, als wären es Lollipops, und du kannst noch nicht mal ein Mädchen küssen, das dich wirklich mag ?«
»Ich mag sie aber nicht, Tiny. Nicht so jedenfalls.«
»Sie ist wundervoll .«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Ich bin schwul, nicht blind. Ihre Haare sind toll gelockt und sie hat eine große Nase. Ich meine, eine großartige Nase. Und, was sonst? Worauf steht ihr denn immer? Titten? Scheint sie welche zu haben. So ungefähr in der normalen Größe. Braucht es sonst noch was?«
»Ich will nicht darüber reden.«
Er lässt den Motor an und dann stößt er mit seinem brummschädeligen Kopf rhythmisch gegen die Hupe. Tüüt. Tüüüüüt. Tüüüüüüüüt.
»Willst du, dass alle zu uns herschauen?«, brülle ich über das Hupen hinweg.
»Ich mach damit weiter, bis ich eine Gehirnerschütterung habe oder du mir versprichst, dass du sie anrufst.«
Ich stecke mir die Finger in die Ohren, aber Tiny stößt mit der Stirn weiter gegen die Hupe. Leute schauen zu uns her. Endlich sage ich: »Okay. Okay! OKAY!« Und das Tüten hört auf.
»Ich werde Jane anrufen. Ich werde nett zu ihr sein. Aber mehr nicht.«
»Deine Entscheidung. Deine wirklich dumme Entscheidung.«
»Also dann«, sage ich voller Hoffnung. »Keine Schulaufführung von Tiny Dancer ?«
Tiny fährt los. »Tut mir leid, Grayson, aber das kann ich nicht. Tiny Dancer ist größer als du oder ich oder wer auch immer von uns.«
»Tiny, du hast wirklich eine seltsame Auffassung von einem Deal.«
Er lacht. »Ein Deal ist, wenn du tust, was ich dir sage, und ich tue, was ich will. Ach ja, weil wir gerade dabei sind: Ich will dich unbedingt selbst auf der Bühne haben.«
Ich lache gequält auf. Wenn das alles in unserer Schulaula aufgeführt wird, ist das wirklich nicht mehr lustig. »Nein. Nie und immer. Nein. NEIN. Außerdem verlange ich, dass du die komplette Rolle rausstreichst.«
Tiny seufzt. »Du hast es immer noch nicht kapiert, oder? Gil Wrayson ist nicht du ; das ist eine erfundene Figur. Ich kann nicht meine Kunst ändern, nur weil dir irgendwas daran nicht gefällt.«
Ich versuche es noch einmal anders. »Das wird mit einer riesigen Blamage für dich enden, Tiny.«
»Es wird über die Bühne gehen, Grayson. Ich hab im Schülerbeirat schon Leute, die mich unterstützen. Deshalb halt jetzt die Klappe und find dich damit ab.«
Ich halte die Klappe und finde mich damit ab. Aber Jane rufe ich am Abend nicht an. Ich bin schließlich nicht Tinys Handlanger.
Am nächsten Tag fahre ich nach der Schule mit dem Bus nach Hause. Tiny ist zum Treffen des Schülerbeirats gegangen. Kaum ist die Sitzung zu Ende, ruft er mich an.
»Gute Nachrichten, Grayson!«, ruft er.
»Jede gute Nachricht hat ihre Schattenseiten«, sage ich.
Und wie könnte es anders sein: Der Schülerbeirat hat für die Produktion und Aufführung des Musicals Tiny Dancer tausend Dollar zur Verfügung gestellt.
Am Abend warte ich darauf, dass meine Eltern nach Hause kommen, damit wir zusammen essen können, und versuche mit dem Aufsatz über Emily Dickinson weiterzumachen, vor allem aber lade ich alles runter, was die Maybe Dead Cats jemals aufgenommen haben. Irgendwie liebe ich sie einfach total. Und während ich mir ihre Songs anhöre, muss ich unbedingt jemand erzählen, wie gut sie sind, und deshalb rufe ich Tiny an, aber er geht nicht ran, und deshalb tu ich genau das, was Tiny will – wie immer. Ich rufe Jane an.
»Hallo, Will«, sagt sie.
»Irgendwie liebe ich die Maybe Dead Cats einfach total«, sage ich.
»Ja, die sind nicht schlecht. Vielleicht eine Spur pseudo-intellektuell, aber hey, sind wir das nicht alle?«
»Ich glaub, ihr Name ist eine Anspielung auf, weiß nicht genau, so einen Physiker«, sage ich. Natürlich weiß ich es genau. Ich habe gerade in Wikipedia alles
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