Wille zur Macht
Keiner sagte ein Wort.
„Also dann: Adios, compañeros!“ sagte Dunker, und Enttäuschung klang in seiner Stimme. Er hängte sich seinen Rucksack um und marschierte mit Rafa los.
Wie erwartet lief Rafa vorneweg, da er den Weg kannte. Christian Dunker traute ihm nicht und ließ den Abstand zwischen den beiden größer werden, um Rafa besser im Auge behalten und notfalls weglaufen zu können. Sein Messer würde ihm bei diesem Abstand jedenfalls nichts nützen. Das wurde ihm klar.
Rafa marschierte einige Kilometer die Straße, die aus dem Dorf führte, und auf der die Brigadisten einst gekommen waren, entlang. Dann blieb er stehen und gab Dunker ein Zeichen, dass sie sich nun nach links ins Gelände schlagen mussten. Hier gab es keinen Weg mehr. Aber Rafa schien zu wissen, wo es langging. Zwischen all den Bäumen, wildwachsenden Bananen und Büschen war es für Dunker nicht möglich, den ehemals eingenommenen Abstand zu halten. Sehr schnell hätte er Rafa aus den Augen verloren. Er schloss näher auf. Rafa drehte sich um und lachte ihm zu. Etwa hundert Meter weiter aber verharrte er plötzlich und riss das Sturmgewehr vom Rücken. Christian Dunker blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Kam jetzt die Abrechnung? Er warf sich zur Seite in die Büsche und versuchte fortzurobben. Aber dann, nach wenigen Metern, sah er vor seinem Gesicht die Stiefel von Rafa. Ängstlich sah Dunker auf. Rafa stand vor ihm und der Lauf seiner AK zeigte genau auf Dunkers Kopf. Eine Hand Rafas befand sich am Abzug, den Zeigefinger der anderen hielt er gestreckt vor seinen Mund, um ihm wortlos mitzuteilen, dass er still sein sollte. Dann ging Rafa neben ihm in die Hocke und lauschte ins undurchsichtige Grün um sie herum. Minuten der Regungslosigkeit vergingen. Aber alsbald richtete sich Rafa wieder auf, hängte seine Waffe über den Rücken und deutete Dunker, ihm weiter zu folgen. Warum hatten sie angehalten? Waren feindliche Contras in der Nähe? Konnte Rafa ihn deshalb nicht erledigen, weil man seinen Schuss hören und er sich selbst in Gefahr bringen würde? Dunkers Misstrauen war nicht geschwunden. Er vergrößerte wieder den Abstand zu seinem Führer. Die Situation war ihm nicht geheuer.
Kurze Zeit später verlor er Rafa aus den Augen und wusste nicht, ob er nun nach rechts oder nach links gehen sollte. Rufen wollte er auf keinen Fall. Er entschied sich, nach links zu gehen, und plötzlich gab der Boden so schnell unter ihm nach, dass er sofort bis zu den Knien im Schlamm versank. Langsam ging es tiefer hinein in den Treibsand. Dunker riss sich den Rucksack vom Rücken und schleuderte ihn einige Meter fort, um sein Gewicht zu reduzieren. Trotzdem sank er weiter. Als er bis zu den Hüften im Treibsand stand, spürte er festen Boden unter den Füßen. Er versuchte, seine Beine zu bewegen, aber es ging nicht. Um sich herum fand er nirgends eine feste Stelle, auf die er sich abstützen konnte. Er steckte fest. Rafa kam zurück. Er sah Christians Oberkörper aus dem weichen Erdreich ragen und hielt sich in sicherem Abstand.
Jetzt brauchte er sich gar nicht mehr die Mühe zu machen, abzudrücken, dachte Christian. Er kann mich hier einfach steckenlassen. Rafa zog das Sturmgewehr vom Rücken. Reflexartig wollten Christians Beine loslaufen, aber es bewegte sich nichts. Sein Atem wurde schneller. Ein Scheißende, dachte Christian. Hätte er doch bloß nie dieses Photo gemacht.
Aber er irrte. Rafa legte die AK beiseite und brach mit heftigen Fußtritten einen Ast von einem Baum ab. Das dünne Ende mit den vielen Zweigen und Blättern schob er zu Christian.
„Venga, venga!“ rief Rafa leise, aber mit Nachdruck. Und als Dunker begriff, dass Rafa ihm nichts antun, sondern im helfen wollte, griff er beherzt zu. Es war kein leichtes Unterfangen, ihn aus dem Treibsand herauszuholen. Aber nach einigen Versuchen gelang es Rafa, ihn so weit heranzuziehen, dass er dessen Hände ergreifen konnte. Jetzt ging es leichter voran. Dunker spürte, wie er langsam aus seinen Gummistiefeln gezogen wurde, die am Boden festzukleben schienen. Die waren weg. Und sein Messer ebenso. Aber nun glaubte er sicher zu wissen, dass Rafa ihm nichts antun, sondern ihn wie geplant zum Treffpunkt mit dem Lkw bringen würde.
Christian Dunker zog sich die verschlammte Hose und die Strümpfe aus, nahm unbemerkt die Filmdose aus der Tasche und steckte sie in seine Unterhose. Die verdreckten Klamotten warf er in die Büsche. Er befreite seine Hände und Arme im feuchten Gras
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