Wille zur Macht
aufgrund ihrer Dimension meistens noch genügend flüssiges Blut enthält.“ Und mit einer Geste forderte er den Pathologiehelfer auf, seine Arbeit zu machen.
Der Mann nahm sich von einem Beistelltisch ein Messer und setzte es an der Innenseite des Oberschenkels der Leiche an. Ein kräftiger Schnitt durch Fett und Muskelfleisch genügte, und eine große klaffende Wunde entstand. Ein wenig Blut sickerte aus ihr. Jetzt setzte der Mann eine Art Spange in die Wunde und drückte sie damit auseinander. Das in der Tiefe der Wunde liegende, dicke Blutgefäß war gut zu erkennen. Ein weiterer, vorsichtiger Schnitt, und ein gläsernes Röhrchen konnte in die Öffnung geführt und vollständig mit Blut gefüllt werden.
Mechthild Kayser beobachtete ihren Praktikanten. Er schien sich wieder gefangen zu haben. Er machte sogar den Eindruck, als wenn er sich interessiert mit der Blutentnahme beschäftigen würde.
Der Pathologiehelfer klebte einen roten Zettel mit einer Nummer auf das Reagenzglas und legte es in eine bereitstehende Aluminiumschale.
„Tja, und das war’s schon!“ rief von Sülzen und strahlte dabei zufrieden übers ganze Gesicht.
Mechthild wollte von Sülzen nicht noch eine Gelegenheit geben, von seiner Alltagsarbeit zu zeigen. Das sollte für heute mehr als ausreichend sein.
„Ja, Herr Professor. Dann bleibt mir ja nur, mich bei Ihnen zu bedanken. Ich denke, es war für Herrn Strehlow sehr aufschlussreich“, sagte sie schnell.
Harald Strehlow nickte. Eilig gab er von Sülzen seine Hand zum Abschied und bedankte sich auch noch einmal. Dann verließen sie die Pathologie.
Draußen vor der Tür hörte Mechthild, wie Harald Strehlow mehrfach tief ein- und ausatmete.
„Frische Luft ist noch immer die beste“, sagte er. Mechthild stimmte ihm zu.
Auf der Rückfahrt ins Präsidium konnte sie ihre Neugier aber nicht länger bremsen. Sie wollte unbedingt wissen, warum von Sülzen in der Kühlkammer so sauer geworden war.
„Die Leiche hatte eine angebissene Banane in der Hand.“
Mechthild musste kurz lachen. Es erschien ihr wirklich komisch. Aber dann bat sie ihren Praktikanten gleich um Verzeihung. Immerhin gehörte ein solcher Scherz eigentlich in die Kategorie „Störung der Totenruhe“.
„Nicht so schlimm. Ich kann mir schon gut vorstellen, dass man sich bei dieser Arbeit irgendwie abreagieren muss. Bei all dem Leid!“
Gar nicht so dumm, der Junge, dachte Mechthild zufrieden. Die erste Belastungsprobe hatte er also gut verarbeitet. Jedenfalls machte es den Eindruck.
Am nächsten Morgen wartete Erna Ratzenow genau bis halb zehn, bevor sie zum Hörer ihres Telephons griff. Sie wusste aus Erfahrung, dass die Kontaktbeamten im Tagesdienst am Neustädter Revier um neun Uhr eine Frühstückspause einlegten. Darauf hatte sie Rücksicht genommen. Aber nun wählte sie die Nummer auf der Visitenkarte, die sie gestern von dem Wachhabenden am Revier erhalten hatte, und Felix Kutscher, der für ihre Straße zuständige Kontaktbeamte, meldete sich auch gleich am anderen Ende.
Erna Ratzenow erklärte ihm ihr Anliegen, und Kutscher kramte auf seinem Schreibtisch herum. Irgendwo hatte er doch schon eine Notiz über diesen Vorfall gelesen. Er fand sie unter seiner Brotdose.
„Ah ja!“ rief er laut und entschlossen in den Hörer, ahnend, das Frau Ratzenow nicht mehr gut hören konnte. Er dachte sich, dass ein kleiner Spaziergang nach dem Frühstück nicht schlecht sein würde und teilte ihr deshalb mit, dass er sich gleich auf den Weg zu ihr machen würde. Insgeheim glaubte er, dass die alte Dame wohl eher mal ein bisschen Gesellschaft brauchte. Aber gegen ein Tässchen Tee und etwas Gebäck bei einem gemütlichen Plausch hatte er nichts einzuwenden. Er musste seinen Tag ja auch irgendwie herumkriegen. Eigentlich war er längst durch mit dem Arbeitsleben in seinem schwierigen Beruf. Er wollte nur noch seine Ruhe haben und die Zeit bis zu seiner Pensionierung möglichst gefahr- und geräuschlos hinter sich bringen.
Felix Kutscher meldete sich beim Wachhabenden ab, steckte sich eines der Handfunkgeräte ein, ohne es einzuschalten, und machte sich auf den Weg. Von der Wache bis zur Pappelstraße, wo Erna Ratzenow wohnte, ging man etwa fünfzehn Minuten zu Fuß. Es war zwar noch kühl, aber trocken. Und er hatte ja seine gefütterte Streifenjacke an, die nicht nur wärmte, sondern auch seinen mittlerweile ziemlich umfangreichen Bauch kaschierte.
Unterwegs wies Felix Kutscher noch einen Radfahrer zurecht, der aus
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