Willi von Bellden (German Edition)
das zerrissene Siegel herunterhing. Leise steckte mein Herrchen den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Ein kurzes Schnappen war zu hören, bevor die Tür aufging. Die Wohnung lag völlig im Dunkeln, als wir eintraten. Sofort nahm ich wieder den süßen, eisernen Geruch des Todes wahr, der sich mittlerweile überall ausgebreitet hatte. Bemüht, keinen Krach zu machen, schritten wir in Norberts Reich hinein. Ich hatte mir fest vorgenommen, Tanner auf meine Entdeckung vom letzten Mal aufmerksam zu machen, deshalb sah er mich verwundert an, als ich plötzlich eilig an ihm vorbeischoss, geradewegs zu dem eleganten Sofa, unter dem sich mein gut gehütetes Geheimnis hoffentlich noch befand.
»Willi!«, zischte er wütend. Dabei sprang eine ganze Fontäne von winzigen Speicheltröpfchen aus seinem Mund heraus, die sich in den dämmrigen Lichtstrahlen der Straßenlaternen deutlich abzeichneten. Da ich nicht bellen konnte, knurrte ich, wobei ich mit den Vorderpfoten vor dem Sofa herumkratzte, um das Verborgene zum Vorschein zu bringen. Das Geräusch, das Tanner daraufhin ausstieß, kam dem Knurren eines Hundes absolut gleich. Hastig eilte er zu mir hin und wollte mich am Halsband wegzerren, doch in diesem Moment hatten meine Pfoten die Buchattrappe zu fassen bekommen und brachten sie zum Vorschein. Sofort ließ mein Herrchen von mir ab und griff danach. Für eine Weile hielt er es verwundert in den Händen. Ich befürchtete schon, dass er auf den billigen Trick der Buchattrappe hereingefallen war, doch dann machten sich seine Finger an den Rändern zu schaffen, und wenig später klappte er es auf. Vorsichtig legte er es auf die Sofalehne und nahm nacheinander das Bild und den Umschlag heraus, um alles genauer in Augenschein zu nehmen.
Seine Gedanken überschlugen sich, das konnte ich ihm ansehen. Er nahm wieder das Bild, drehte und wendete es, bevor er damit zum Fenster ging, um im Mondlicht Genaueres erkennen zu können. Ich wusste, was mein Herrchen darauf erblicken würde. Norbert und Mathis, einige Jahre jünger, doch deutlich auszumachen, die erschrocken auf einen Körper starrten, der leblos auf dem Boden lag. Das Bild war mit einer Polaroidkamera aufgenommen worden und an manchen Stellen schon verblasst. Tanner legte es zurück in das Buch und nahm das Kuvert heraus, in dem sich ein dickes Bündel Geldscheine befand. Bedächtig blätterte er sie mit dem Daumen durch. Es musste sich um eine hohe Summe handeln, was ich seinem leise ausgestoßenen Pfiff entnehmen konnte.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, flüsterte er gedankenverloren, während er das eben Entdeckte zurück in das Buch legte und es wieder verschloss. Danach schob er es an die Stelle unter der Couch, wo er es gefunden hatte. Natürlich konnte er nicht wissen, dass diese Attrappe, bevor sie mir aufgefallen war, völlig unauffällig zwischen den anderen Büchern gestanden hatte. Doch diese Begebenheit tat nichts zur Sache; es war schon egal, an welchem Ort sie irgendjemand finden würde. Nun hatten wir also ein verdächtiges Bild, auf dem Norbert und Mathis abgebildet waren, wahrscheinlich sogar in irgendeiner prekären Situation, die ich noch nicht zu deuten wagte, da mir der dritte Mann auf dem Bild unbekannt war. Eins stand dennoch fest, Mathis und Norbert standen in einer Beziehung, wenn auch in einer noch zweifelhaften. Dann war da noch der Umschlag mit dem vielen Geld und natü rlich die wertvollen Funde, die Norbert höchstwahrscheinlich unterschlagen hatte. Während Tanner die Schlüssel sorgsam mit einem Taschentuch abrieb und achtsam (da es unachtsam aussehen sollte) auf dem Esszimmertisch deponierte, versuchte ich ein Netzwerk der Norbert’schen Machenschaften in meinem Kopf zu spinnen, was sich jedoch als äußerst schwierig erwies. Mein Herrchen machte indes Anstalten aufzubrechen. Schnell schloss ich mich ihm an, da ich das dringende Bedürfnis verspürte, diesem Ort des Todes zu entrinnen.
Unterwegs zum Wagen kam mir der Gedanke, dass Norbert vielleicht die Funde unterschlagen hatte, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Wie konnte man sonst das viele Geld erklären, welches er zu Hause aufbewahrte? Ein Mann wie Aschter trug normalerweise sein Geld zur Bank, damit es sich vermehrte. Doch was war schon normal? Jedes Mal wenn ich am ersten Mittwoch eines Monats zusammen mit Anny und den Kindern Aktenzeichen XY verfolgte (Wir verpassen nie eine Sendung!), fällt mir auf, wie kompliziert doch das Leben ist. Erst gelten alle als
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