Willi von Bellden (German Edition)
und ich schauten uns mit hochgezogenen Brauen an. Wir wussten, was folgen würde. Und genau das folgte auch. Nachdem Tanner Oskar mindestens dreimal ohne Erfolg ermahnt hatte, stapfte er plötzlich auf meinen Sohn zu, schnappte ihn am Halsband, und schon wurde er nach oben zu den Dolmen gezogen. Oskar wollte aber weder am Halsband gezogen werden noch zu den Dolmen hoch. Doch mein Herr und Gebieter zeigte ihm zum ersten Mal in seinem Leben, wie wenig manchmal der eigene Wille zählt, wenn man nicht bereit ist, die Bedürfnisse von anderen zu akzeptieren. Jaulend beklagte sich Oskar bei uns, die wir nur die Köpfe zur Seite legten und tief einatmeten. Wir kannten das alles schon.
Ich war heilfroh, als wir wieder auf dem Campingplatz in unserem Mobile Home angekommen waren. Der Satz: Today is not my day, schien perfekt auf mich zuzutreffen, aus diesem Grund nahm ich mir vor, den Rest des Tages auf geruhsame Art zu verbringen, das hieß schlafen, fressen, naturbedingte Geschäfte erledigen. Fertig.
Doch ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte, konnte ich meinen Plan nicht einhalten.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Selten waren die Minuten, geworden, in denen sein Bewusstsein ihm keinen Streich spielte und er klar denken konnte. Es gab mittlerweile mehr Augenblicke, in denen ihm alles egal war, als Momente, in denen er verzweifelt seine Gedanken an seine Familie richtete. Sollte er kommen, der Tod, er würde sich ihm beugen. Doch so gut meinte es selbst der Tod nicht mit ihm. Jeder Atemzug kostete enorme Kraft, die Luft enthielt nur noch ein Minimum an Sauerstoff, zu wenig für seine Lungen, die selbst in dem elenden Gestank ums pure Überleben kämpften. Nachdem er kurz versucht hatte, die Augen zu öffnen, was in der Dunkelheit keinen großen Unterschied machte, fragte er sich zum hundertsten Mal, seit er hier unten war, ob das größte Ziel des Menschen sein eigenes Glück ist oder nur ein Trugschluss der Natur, um den Homo sapiens bei Laune zu halten, damit er fruchtbar ist und sich vermehrt. Was hätte Tanner wohl dazu gesagt? Oder Mathis? Mathis hätte ihm sicherlich geantwortet, das erklärte Ziel könne nur sein: »Brot, Wein und Spiele«, als Anspielung auf die elementarsten Bedürfnisse der Gesellschaft, die in seinen Augen in einem solchen Maße abgestumpft waren, dass die meisten Menschen noch nicht einmal das Beste genießen konnten, was niemand anderes als der liebe Gott persönlich aus der Natur hervorgebracht hat: den Wein.
Anstatt eines plötzlichen Lachens hüstelte er nur rau und heiser. Mehr war nicht drin. Aber seine Freunde tobten in seinem Kopf, das fühlte sich schon mal gut an. Mathis, der gute Mathis, dessen ganze Welt sich um Wein drehte. Und Tanner, der ein halbes Leben immer an seiner Seite gestanden hatte. Während der Vorlesungen, in Kneipen, bei Besäufnissen und Männerrunden, in denen es heiß herging. In letzter Zeit hatten sie sich viel zu selten gesehenen, besser gesagt in den vergangenen Jahren, in denen jeder von ihnen damit beschäftigt war, seine eigene Familie zu gründen. Und nicht nur das, sondern auch die Highlights im Leben waren seltener geworden, zu deren Teilhabe man normalerweise den Freund an der Seite weiß. Doch außer Junggesellenabschied, Hochzeit und Taufe gab es nicht mehr viele Anlässe, zu denen man einlud. Das sollte ich unbedingt ändern, dachte er voller Wehmut, doch die Hoffnung, hier rauszukommen, hatte er längst aufgegeben. Tagelang hatte er versucht zu graben, hatte gescharrt, gerufen und gehämmert, doch nichts war passiert. Manchmal hatte er den Eindruck, dass Stimmen an sein Ohr dringen würden, doch das konnte genauso gut eine Sinnestäuschung sein. Sicher war nur, dass er weder wusste, weshalb er hier unten war, noch wie lange schon. Wenn man keine Gelegenheit hatte, Tag und Nacht zu unterscheiden, dann wurde man seines Zeitgefühls vollkommen beraubt. Sowieso hatte er nie ein gutes Gefühl für Zeit besessen. Immer wieder war Selma ihn rufen gekommen, wenn er in der Werkstatt eigentlich nur etwas schnell hatte reparieren wollen, oder wenn er im Garten arbeitete und dabei Kleinigkeiten aus der Zeit des großen Krieges fand und dabei völlig die Zeit vergessen hatte.
Die Zeit – was hatte sie für eine Bedeutung erlangt, hier unten an diesem Ort des Todes?, fragte er sich.
»Du bist wie ein kleiner Junge!«, pflegte sie ihn scherzhaft zu schimpfen, und da musste er ihr recht geben. Er besaß diese kindliche Eigenschaft, in eine Sache
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