Willi von Bellden (German Edition)
bis sich der Hausmeister, ein alter Greis von mindestens neunzig Jahren, erbarmt hat, mit mir ins Archiv zu gehen.«
»Und das war womöglich im Keller?«, fragte Anny belustigt.
Tanner schüttelte den Kopf.
»Sehr merkwürdig, aber es befindet sich im gleichen Stockwerk wie die Redaktion, nur dass es darin kein Tageslicht gibt, sondern nur Regale, gefüllt mit unordentlichen Zahlen und Daten und einigen düsteren Leuchtern. Bis ich hinter die Ordnungsstruktur gekommen bin, hat es wieder über eine Stunde gedauert, in der mir der Greis keine Sekunde von den Fersen gewichen ist.«
Basko und ich schmunzelten. Lebhaft konnten wir uns die Situation vorstellen.
»Es ist eher dem Zufall zu verdanken, dass ich auf die von mir gesuchte Ausgabe gestoßen bin. Sie lag falsch einsortiert in einer der obersten Schubladen, die ich wahllos der Reihe nach geöffnet hatte. Der Artikel stach mir sofort ins Auge: Maxime Martin – unschuldig zu lebenslanger Haft verurteilt?«
Anny war vollkommen in Tanners Ausführungen versunken. Mein Herrchen steckte sich eine weitere Zigarette an und schenkte sich Kaffee nach, bevor er fortfuhr.
»Und dann wurde der Name des Getöteten genannt und natürlich, wie er zu Tode gekommen war.«
Er machte eine lange Pause, in der Anny auf der Bank hin und her rutschte.
»Jetzt mach’s nicht so spannend! Erzähl schon ...«, forderte sie ihn ungeduldig auf.
»Nicolas Henry. In Freundeskreisen auch der Schmeichler genannt. Und jetzt pass gut auf, wie der gute Nicolas ums Leben gekommen ist! Er starb an den Folgen schwerster Kopfverletzungen. Dem Zeitungsbericht zufolge wurde er von Maxime Martin bei einer handfesten Auseinandersetzung anlässlich eines Trinkgelages kopfüber in einen nahegelegenen Brunnen gestoßen. Am nächsten Morgen wurde Maxime, im Delirium liegend, neben dem Brunnen gefunden, in dem sich die Leiche von Nicolas Henry befand. Außerdem stand in dem Artikel, dass zahlreiche Zeugen, die ebenfalls zuvor auf dem Fest gewesen waren, ausgesagt hätten, Maxime und Nicolas hätten schon früh am Abend Streit bekommen, der jedoch beigelegt worden wäre. Die Untersuchung ergab, dass Maxime erhebliche Mengen Drogen und Alkohol im Blut hatte. Er bestreitet bis heute, diese Drogen genommen zu haben, doch anhand der auftretenden Zeugen konnte bewiesen werden, dass er schon des Öfteren Drogen konsumiert hatte. Wer allerdings die Zeugen waren, das stand nicht in dem Artikel, und ich weiß auch nicht, auf welchem Weg ich das herausfinden könnte.«
Tanner drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und starrte für einen Moment ins Leere, während Anny dabei war, das eben Gehörte mit den schon vorhandenen Indizien aneinanderzureihen.
»Es sei denn ...«, Tanner hielt seinen Zeigefinger direkt vor seine Nase, »... ich füttere Monsieur Commissaire mit weiteren Informationen, wenn er mir meine Fragen wiederum beantwortet.«
Anny schaute ihn skeptisch an.
»Spätestens beim letzten Mal hat er dich durchschaut. Wahrscheinlich lässt er dich bei deinem nächsten Besuch einsperren!«
Tanner verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.
»Du hast vermutlich recht!« Seufzend drückte er seine Zigarette aus, doch er kam nicht mehr dazu, das Gespräch mit Anny fortzuführen, weil die Kinder lärmend um die Ecke gebogen kamen.
Am darauffolgenden Tag unternahmen wir alle zusammen einen Ausflug zu den Dolmengräbern, die ungefähr sechs Kilometer von unserem Campingplatz auf einer kleinen Anhöhe liegen.
Natürlich hatte Tanner dieses Ziel vorgeschlagen; hier witterte er wieder einmal die Chance, den Kindern etwas Kultur nahezubringen, wie er seine historischen und archäologischen Exkursionen gerne anpries.
Gewöhnlich ging dabei ein Murren und Stöhnen durch die Gemeinde, was des Öfteren damit endete, dass unser Kulturchef und sein treuer Begleiter, das wäre dann ich, allein loszogen, um uns der Kultur zu nähern.
Diesmal jedoch hatten alle sofort und begeistert zugestimmt, denn wir mussten, um an die großen Steinkistengräber zu gelangen, ein ausgetrocknetes Flussbett durchqueren – mit sumpfigen Wiesenstreifen, karstigen Felsformationen und unzähligen Tümpeln, eine herrliche Landschaft, in der es allerlei buntes Kleingetier zu entdecken galt.
Für diesen Spaß nahm man schon mal in Kauf, dass mein Herrchen sicherlich keine Ruhe geben würde, bis jeder seinen Ausführungen zu jahrtausendealten Bestattungssitten und vergessenen Totenkulten gelauscht hatte.
Unterwegs machten wir an
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