Willkommen in der Wirklichkeit
verschwunden.«
»Genau«, sagt Vincent eindringlich. »Sie ist verschwunden.«
»Aber habe ich sie überfahren?« Der Fahrer zerrt beschwörend an Vincents Ärmel. »Habe ich jemanden getötet? Ein Mädchen?«
»Sie haben niemanden überfahren«, sagt Vincent mit steinernem Gesicht. »Da war niemand.« Sich umdrehend, geht er davon und läßt den Fahrer des Wagens mit seiner Verwirrung allein. Auch die blaugekleideten Polizisten kommen nun hinüber. Was David Vincent betrifft, ist nun alles vorbei. Diese Begegnung mit ihnen zumindest. Und immerhin hat er sich nicht täuschen lassen; dieser komplizierte, ausgeklügelte Plan der Invasoren ist gescheitert. Und seine Aufgabe ist noch nicht erledigt: wir erkennen dies an der Niedergeschlagenheit, mit der Vincent aus dem Bild geht.
»Ein Mann, der glaubte, er könne sich ausruhen«, sagt die Stimme aus dem Take-Off. »Ein Mann, dem man sagte, andere seien gekommen, um den Kampf zu führen, andere, die besser qualifiziert und zahlreicher sind – Profis, die den Sieg davontragen und ihren schützenden Mantel um die wehrlose Erde hüllen könnten. Für eine kleine Weile – nur ein paar Stunden, mehr nicht – schien David Vincent nicht allein zu sein. Muß es immer so sein? Könnte die grausame Finte von heute nicht zur tröstenden Wirklichkeit von morgen werden? Und mittlerweile macht David Vincent weiter, denn er hat keine andere Wahl. Allein oder mit anderen – er wird weitermachen. Unter all den Illusionen, hinter all den Täuschungen bleibt dies bestehen. Denn David Vincent ist solch ein Mensch; das ist die Wirklichkeit, die Wirklichkeit von David Vincents Wesen.«
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Originaltitel: ›Warning: We Are Your Police‹
Copyright © 1985 by the estate of Philip K. Dick
(erstmals erschienen als ›Philip K. Dick Newsletter 7‹)
Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Uwe Anton
Thomas M. Disch
Das Mädchen mit dem Vita-Gel-Haar
»Oh, das fühlt sich einfach toll an«, sagte Deborahs Haar, als es über ihre nackte Schulter fiel. »Hui! Oh, ich fühle mich so entspannt, so frei. Oh, Deborah, ist das Leben nicht wunderbar!«
Sei still! mahnte Deborah, wandte den Blick vom Spiegel ab und ergriff eine Zeitschrift vom Stapel am Ende der Kommode. Sie sprach nicht laut, denn sie unterhielt sich mit ihrem Haar in einem stummen Dialog.
Aber nichtsdestoweniger einem wirklichen Dialog. Deborahs Haar war ein empfindendes Wesen und führte eine autonome Existenz. Von ihrem Haar zu sprechen war vielleicht also nicht ganz richtig. Es war auch nicht immer so gewesen, erst seit der ersten Anwendung der weichen weißen Mousse namens Vita-Gel vor zwei Monaten. Das Vita-Gel hatte ihr Haar zum Leben erweckt, es ›mit Lebenskraft erfüllt‹, genau, wie die Fernsehwerbung es versprochen hatte.
Die Vita-Gel-Werbung war die schönste im Fernsehen, sogar noch schöner als die ›Share the Fantasy‹-Spots für Chanel No. 5. So war es ihr ganz natürlich, ja sogar unausweichlich erschienen, daß sie eine Packung kaufte, als sie die kleinen Probierpackungen zum speziellen Einführungspreis von nur vier achtundneunzig sah.
Reiben Sie einfach eine kleine Menge
VITA-GEL-MOUSSE
ins feuchte Haar ein.
Nach fünf Minuten trockenfönen.
Jede Woche wiederholen.
Die angebrochene Packung im Kühlschrank aufbewahren.
Die Mousse ließ ihr Haar wirklich wunderschön aussehen; das konnte man nicht abstreiten. Und Deborah hätte auch nichts dagegen gehabt, daß ihr Haar lebendig und des Denkens befähigt war – wenn es nur lernen würde, seine Gedanken für sich zu behalten.
Doch das war nicht der Fall. Das Haar war eine Plaudertasche. Es ähnelte einem Kind, das wußte, daß es still sein sollte, einem aber trotzdem mit unmöglichen Fragen auf die Nerven ging. »Warum machst du das?« – »Wie lange bleibst du noch da sitzen und liest das Buch?« – »Kimberly ist ein schöner Name, glaubst du nicht auch?« Und ständig – ständig! – bat es darum, gekämmt und gebürstet und aufgewickelt und zu einer neuen Frisur geordnet zu werden. Und immer, wenn sie gerade essen wollte, an jedem Wochenende, jeden Augenblick, den sie nicht arbeitete oder schlief, bat es darum, einkaufen zu gehen. »Fahren wir zur Roseville-Promenade, Debbie, was meinst du, hmm? Wäre das nicht schön? Da gibt’s diese Rüschenblusen im Ausverkauf. Und danach könnten wir zu dem Geschäft gehen, wo es diese
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