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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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du hast einen Bewunderer.«
    Natürlich schaute Deborah hin, doch alle Männer an der Bar schienen gleichermaßen selbstvergessen, als gingen sie völlig in ihren Gedanken auf.
    »Sie doch nicht. Der Mann mit dem graumelierten Bart, der mit diesem Mädchen mit den gefärbten Brillengläsern am Tisch hinter dir sitzt. Er gibt vor, ihr zuzuhören, doch in Wirklichkeit sieht er dich an. Oh, sieh doch, jetzt gibt er ihr die Hand. Er steht auf. Er kommt hierher.«
    Und dann stand er neben ihrem Tisch, die rechte Hand auf dem leeren Stuhl, und fragte sie, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er sich zu ihr setzte. Sie lehnte den Kopf zurück, um seinen Blick zu erwidern, doch sein Blick ließ sich nicht erwidern. Der Mann war von mittlerem Alter und hatte ein durchaus angenehmes Gesicht, doch seine Augen schienen sich auf jemanden oder etwas direkt rechts neben Deborah zu konzentrieren. Auf ihr Haar, begriff sie.
    »Deborah! Beantworte seine Frage.«
    »Setzen Sie sich, wenn Sie möchten«, sagte Deborah mit einem Zurückwerfen des Kopfes, das abweisend wirken sollte, ihrem Haar jedoch einen kurzen Augenblick wortloser, übertriebener Eitelkeit ermöglichte. Sie kam sich vor, als würde ihr Haar nicht nur ihre Worte diktieren, sondern auch selbst ihre kleinsten Bewegungen beherrschen; und überdies war dies noch richtiggehend aufregend, als wäre ihr Leben zu einem Film geworden, den sie sich im Fernsehen ansah.
    »Mein Name ist Phil.«
    »Deborah«, sagte sie und neigte den Kopf kurz zur Begrüßung.
    »Ich muß Ihnen sagen …« Er hielt einen Augenblick lang inne und platzte dann heraus: »Ihr Haar ist einfach wunderschön.«
    »Vielen Dank.«
    »Es ist nicht schwarz, nicht wahr?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein, es ist nur dunkel. Das Braun, das dem Schwarz am nächsten kommt. Dunkel und … wie sagt man noch? Glänzend! Sie haben glänzendes Haar. Wie es immer in den Werbespots im Fernsehen heißt.«
    Ist er verrückt? fragte sie sich. Sprechen Männer in Single-Bars normalerweise so, wenn sie eine Frau aufreißen wollen? Aus einer eigenen Erfahrung konnte sie nicht schöpfen. Erst seitdem sie Vita-Gel benutzte, machten die Männer schmeichelnde Bemerkungen über ihr Haar und benahmen sich so, wie sich die Männer in den Werbespots benehmen. Vielleicht entsprach das Leben mehr den Werbespots, als es sie immer gedacht hatte. Doch ob das gerade gut war?
    »Deborah!« schalt ihr Haar. »Hör auf, dir so viele Sorgen zu machen! Genieße den Abend! Er mag dich; kannst du das nicht akzeptieren?«
    Er mag dich, gab Deborah wütend zurück.
    »Ich wette, Sie halten mich für verrückt«, sagte Phil. »Da kommt ein völlig Fremder und …« Er hielt mit einem besorgten Gesichtsausdruck inne. »Was ist das?«
    Deborah blickte über ihre Schulter. »Was ist was?«
    »In Ihrer Hand. Dieser … dieser Fisch.«
    Sie blickte zu dem Pepperidge Farm-Goldfischli und dann auf das Schälchen, dessen Inhalt sie schon zur Hälfte gegessen hatte, ohne daß es ihr überhaupt aufgefallen war. Knabbergebäck übte diese Macht über sie aus – Knabbergebäck und Desserts.
    Sie erinnerte sich mit plötzlicher Sehnsucht an den noch nicht gebackenen Just Because TM-Käsekuchen im Kühlschrank.
    »Nur etwas zum Knabbern. Wenn Sie auch ein paar wollen, da ist die Schale.«
    »Der Fisch«, sagte Phil ernst, »ist ein antikes christliches Symbol. Wußten Sie das?«
    Er war verrückt. Aber wahrscheinlich nicht gefährlich. Und außerdem – war sie nicht selbst verrückt, eine Frau, die sich in Gespräche mit ihrem Haar vertiefte?
    »Kein Witz?« sagte sie und schob ein fischförmiges Stückchen Knabbergebäck in den Mund, kostete die salzige Knusprigkeit. »Und ich dachte, das wären nur überflüssige Kalorien.«
    Phil legte die Ellbogen auf die weiße Formica-Tischfläche und beugte sich vor, als würde ihn eine unsichtbare Winde langsam zu ihr hinziehen. »Es gibt zwei Gründe dafür. Zum einen ist das griechische Wort für ›Fisch‹ ein Akronym für Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser – genau wie SF ein Akronym für Science Fiction oder MAD ein Akronym für ›Militärischer Abschirm-Dienst‹ ist, dieser Geheimdienst, der weniger abschirmt als schnüffelt. Oder auch REM, wie in REM-Schlaf, ein Akronym für ›Rapid Eye Movement‹ – schnelle Augenbewegungen bei Traumphasen.«
    »Lenk ihn von den Akronymen ab; frag ihn, was der zweite Grund ist«, drängte ihr Haar.
    Er ist verrückt! hielt Deborah dagegen.
    »Ich finde ihn einfach

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