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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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verschwanden. In Jesus’ Brust konnte Phil das Geheiligte Herz Unseres Herren sehen. Es war von Dornen umkränzt und von einem groben hölzernen Kruzifix durchbohrt, und darüber thronte ein leuchtendes, goldenes Diadem.
    Es schlug langsam, pochte in einem absolut gleichmäßigen Baß, ein Geräusch wie der Donner des herannahenden Verderbens.
    Phil rutschte, noch immer kniend, ein paar Meter zurück; es war ihm unmöglich, in der Nähe Christi zu verbleiben.
    Er sah, daß Jesus von einem Heiligenschein aus Wolken umgeben war. Sonnenstrahlen leuchteten auf einem goldüberzogenen Plastikrahmen mit metallenen Flecken darauf. Phil bewegte sich schwankend von einer Seite auf die andere, und dabei flossen die Blutstropfen auf Jesus’ Stirn auf und ab.
    Das eingerahmte Porträt Christi stand auf einem gemaserten, mit Lamellen versehenen Baukastensystem-Regal und war von Aschenbechern und Bierkrügen umgeben. Die Bierkrüge waren mit Bildern von Achterbahnen verziert. Sie trugen das Motto: Besuchen Sie den Freizeitpark Santa Cruz – Spaß für die ganze Familie.
    Phil erinnerte sich daran, im Juli 1974 den Freizeitpark Santa Cruz mit seiner Verlobten besucht zu haben.
    Er drückte die Lider zusammen, um das Bild von Jesus und dem Freizeitpark Santa Cruz verschwinden zu lassen, und rief mit lauter Stimme: »Hartley!«
    Es erklang ein leiser Knall. Phil öffnete die Augen und sah, daß Hartley in einer kleinen Rauchwolke wieder aufgetaucht war.
    »Hartley, ist das alles in meinem Kopf?«
    Hartley deutete zu Boden. Eine kleine grüne Eidechse huschte davon und verschwand zwischen den Felsen.
    »Es ist nur in meinem Kopf, oder? Ist das der ultimative Trip? Wenn er es ist, ist er schrecklich. Es hätte nicht schlimmer kommen können. Wenn ich versuche, die Realität zu finden, gibt es keine! Ich brauche irgendeinen äußerlichen Maßstab! Ich …«
    Hartley streckte die Hand aus. Sie enthielt einen grauen, gemaserten Granitstein von der Größe einer kleinen Warzenmelone.
    »Geben Sie sich doch nicht so verdammt klugscheißerisch!« Phil wischte den Stein aus Hartleys Hand. Dabei riß er sich schmerzhaft die Knöchel auf.
    Hinter Hartley erschien der Mount Rainier.
    »Ist es so besser, Phil? Oder würden Sie den Shasta vorziehen? Wir könnten dort mit den Lemuriern und den Weisen auf dem Berg herumtollen. Oder der Everest. Wollen Sie mal einen Yeti sehen? Wie wäre es mit dem Kilimandscharo? Wir könnten Ernest Hemingway treffen.«
    Während Hartley sprach, veränderte der Berg hinter ihm ständig seine Form und Größe.
    »Hören Sie auf! Hören Sie auf! Ich kann es nicht mehr ertragen!« Phil zog ein großes, rotgemustertes Taschentuch aus der Jeanstasche und vergrub das Gesicht darin.
    Er fühlte eine sanfte Berührung auf seiner Schulter, und dann kühle, behutsame Finger auf der tränennassen Wange.
    Er blickte auf.
    Sie war klein und zierlich, mit scharfen Gesichtszügen und braunem Haar, kurzgeschnitten wie das von Jean Seberg in ihrer Rolle als Johanna von Orleans.
    »Komm, Liebling. Es ist alles in Ordnung. Das ist die Wirklichkeit.«
    »Bist du … bist du La Vonda?«
    Einen Augenblick lang verschwamm ihre Gestalt. Sie schien sich in eine untersetzte, braunhäutige Putzfrau zu verwandeln.
    Dann verwandelte sie sich zurück.
    »Nein. Ich bin, wer immer du willst, Phil. Ich bin, wen immer du brauchst.« Sie zog ihn zu sich, schlang die Arme um ihn, half ihm, den Kopf an ihre knochige Brust zu drücken.
    »Na also. Ist das nicht besser? Ist das nicht besser?«
    »Wer sind Sie?«
    »Eine Frau. Alle Frauen. Eva. Maria.«
    »Lilith!«
    »Nein!«
    Doch ihre Stimme verriet sie. Sie war Lilith. Sie stieß ihn davon; in ihren grünen Augen funkelte die Wut. Sie war Medusa. Ihr kurzes braunes Haar verschrumpelte und wurde zu einem Nest zischender Schlangen. Sie streckten ihm ihre gegabelten Zungen entgegen. Sie spuckten Gift. Sie bissen zu.
    Er fuhr herum und lief, hetzte zwischen dunklen Bäumen einher, die mit scharfen, nackten Ästen und Zweigen nach ihm griffen. Es donnerte. Er taumelte blindlings weiter, hob das Gesicht zum Himmel. Schwarze, aufgerührte Wolken wirbelten über ihn hinweg.
    Regen fiel auf ihn. Es war heiß, und die Luft war mit brauner Asche erfüllt.
    Es blitzte in blutigem Scharlachrot auf.
    Phil hielt die Hände vors Gesicht.
    Seine Finger hatten sich in Injektionsspritzen verwandelt. Seine Nägel hatten sich in kurze Hohlnadeln verwandelt. Sie zuckten ihm mit einem Eigenleben entgegen.
    Donner rollte,

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