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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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schließt die Augen. »O tempora, o mores«, grummelt er, »alles geht kapores …« Vielleicht meint er Herrn Kürtens Gehirn; oder die ZIR; oder den Kosmos insgesamt, der ohne Aufsehen, aber stetig der Entropie anheimfällt, so wie Altern eben abläuft. [7] Aber ehe er die Rätselhaftigkeit erläutern kann (falls er darauf Wert legt), verstummt auf einmal der Summsang des Automatons, die Monotonie der Roboterarie, als er sein Werk vollbracht hat, nämlich die Hypnose behoben. Der Angloamerikaner schreit heiser auf, schlägt die Hände vors Gesicht, er taumelt, stößt mit der Wampe gegen den Schreibtisch, fängt sich gerade noch an der Tischkante ab, schmeißt auf dem Pult Sachen um, so daß der Zentikrat gereizt aufspringt, und auch Kommissar Kürten zuckt trotz seiner Abgebrühtheit zusammen, als er die grauenvollen Laute aus der Kehle des Feistlings hört, der sich anscheinend irrtümlich vom Automaten bedrängt glaubt, er zerrt an den Tentakeln und Pseudopodien, von denen sich einige in seinem Vollbart verfangen haben. Kürten steht auf, um einzugreifen, aber zu spät. »Lassen Sie’s gut sein, Dick«, ruft H.G. in herrischem Ton, bedient sich nun des Englischen, das er genauso schlecht wie das Deutsche spricht, doch dank seiner erst kürzlich im Rahmen eines Spezial-Lehrgangs durch Suggestopädie vermittelten Englischkenntnisse bereitet diese Umstellung Kürten keine Verlegenheit, er wird sich auch an der bevorstehenden Unterhaltung beteiligen können. »Machen Sie keinen Quatsch! Der Automat ist harmlos.« Er eilt um den Tisch, entfernt das Gerät von den Schultern des Fetten, dessen Geröchel daraufhin verebbt, zupft ihm allerlei mechanische Extremitäten aus dem Bart. »Beruhigen Sie sich, alles ist in Butter.«
    Der Mann namens Dick – er trägt eine Cowboy-Hose in Blau (eine ›Jeans‹) und etwas ähnliches wie ein kurzärmeliges, türkisfarbenes Unterhemd – starrt den Zentikraten an, zuerst aus aufgerissenen Augen, als wähne er ein Gespenst zu sehen; dann verkniffenen Blicks, die Stirn gefurcht, als befürchte er, Opfer eines schlechten Jux geworden zu sein. »Was ist denn das? Wo bin ich?« Noch schnaufte er schwer. »Sie kennen mich? Ach …!« Er streckt H.G. eine Hand entgegen. »Und ich kenne Sie. Wieso …?« In seinen Gesichtszügen gelangen all die Ratlosigkeit und Verzweiflung zum Ausdruck, wie sie ein Mensch empfinden muß, dessen Erleben jäh einen Wechsel durchmacht, der sich an Schroffheit, Unbegreiflichkeit und Grausamkeit nicht überbieten läßt.
    »Regen Sie sich ab.« Gelangweilt winkt H.G. den Amerikaner vom Schreibtisch zurück, während Kürten, der ihn mißtrauisch von der Seite im Augenmerk behält, sich den Erinnerungen an das eigene erste Erwachen – die erste Reinkarnation nach seiner Hinrichtung drüben in der Anderzeit, den Schock des Entwurzeltseins – entschieden entgegenstemmt, als sie hochkommen wollen; der Zentikrat ist längst an derlei Szenen gewöhnt. »Selbstverständlich weiß ich, wer Sie sind: Philip Kindred Dick, geboren neunzehnhundertachtundzwanzig in Chicago, Science Fiction-Autor.« Der Zentikrat verzieht den Mund – vielleicht unwillentlich – zu einem Lächeln mühselig gemäßigter Genüßlichkeit. »Gestorben neunzehnhundertzweiundachtzig.« In seinen Augen glimmert wie Quecksilber stille Genugtuung. »Zwei Schlaganfälle.«
    »Also doch.« Dicks Stimme wird mit einem Mal ausdruckslos, klingt nach dem Aschegeschmack der Niederlage. »Die Klinik … Das war kein Traum. Ich bin gestorben.« Ehe Kürten ihm zuvorkommen kann, wirft sich Dick in den vakanten Stuhl, wumst hinein wie ein Sack Zement, der Lederbezug quarrt, Dick breitet eine Hand über Nasenwurzel und Augen. Ein Schriftsteller? denkt Kürten ganz verwundert. Wozu soll so ein Schreiberling uns von Nutzen sein? »O Gott …« Notgedrungen bleibt Kommissar Kürten stehen. »Und ich hatte mich noch in eine der Krankenschwestern verliebt …« Für ein längeres Weilchen sind sie alle stumm: Kürten und H.G., deren Blicke sich ab und zu wortlos kreuzen, und Dick, der den Eindruck erweckt, als werde er gleich in Tränen ausbrechen. »O Gott«, wiederholt er schließlich, senkt die Hand vom Gesicht, blickt voller Trostlosigkeit H.G. an. »Ich kenne Sie. Weshalb begegne ich hier und jetzt Ihnen?« Aus Amüsement rutschen dem Zentikraten die Brauen aufwärts, lautlos macht er mit den Lippen T-t-t. »Das kommt mir völlig verrückt vor …« Dick unterbricht sich, schnauft erneut laut, als huste

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