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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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Gesicht, doch es blieb verschwommen, wurde nicht greifbar.
    Er riß die Augen wieder auf, und das Geräusch verschwand.
    Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er war ohnmächtig geworden und hatte sich mit letzter Kraft zu seinem Haus schleppen können …
    Er schwang die Beine vom Bett und richtete sich auf. Verwundert registrierte er, daß sie sein Gewicht trugen. Mühsam machte er ein paar Schritte, und langsam kam wieder Gefühl in seinen Körper. Er sah auf die Uhr. Sie war stehengeblieben, zeigte halb drei.
    Sich am Geländer festhaltend, ging er die Treppe hinab und in die Küche. Es war immer noch sehr kalt, und die Heizung schien endgültig den Geist aufgegeben zu haben. Als er den Warmwasserhahn aufdrehte und die Hände darunterhielt, zuckte er zurück.
    Das Wasser war so kalt, daß die Berührung damit schmerzte. Aus einem heißen Kaffee wird wohl nichts, dachte er. Er ging zum Eisschrank und öffnete ihn. In dessen Innerem blieb es dunkel, das Lämpchen leuchtete nicht auf. Es schien keinen Strom zu geben.
    »Tessa?« rief er.
    Keine Antwort.
    Als er aus dem Fenster schaute, hatte er Mühe, die sofort zurückkehrende Schwäche zu unterdrücken. Die Sonne war gerade aufgegangen; offensichtlich hatte er vierundzwanzig Stunden geschlafen.
    Und nichts regte sich. Alles war totenstill. Die Alltagsgerüche, an die er sich im Lauf der Jahre gewöhnt hatte – der viel zu laute Plattenspieler der Pierce nebenan, das Geplärre der Dennison-Babies, die Autos, die unter dem Fenster vorbeifuhren, das ewige Gekläffe von Parkers Hund – all das fehlte.
    Es bewegte sich nichts in der Stadt, bis auf ein paar Blätter, die der Wind vor sich her durch die Straßen trieb. Jedes menschliche und tierische Leben schien aus Pine County geflohen zu sein. Nur die Autos waren geblieben, ordnungsgemäß an den Straßenrändern geparkt. Pine County war schließlich eine ordentliche Stadt, in der alles seine Richtigkeit haben mußte.
    Ein penetranter Geruch stieg Kendrick in die Nase und vertrieb den leichten Lysol-Gestank, den er noch immer wahrzunehmen glaubte. Die Tiefkühltruhe! Wenn sie keinen Strom mehr hatte, würden die Lebensmittel innerhalb kurzer Zeit bis auf das letzte Stück verderben.
    Aber es war schon zu spät. Die Vorräte waren bereits ungenießbar. Er schlug die Tür so fest zu, daß der Schrank erzitterte.
    Im Bad benetzte er sein Gesicht mit dem eiskalten Wasser. Dann nahm er den Schlüssel, verließ das Haus und schloß die Tür hinter sich ab. Tessa würde bei ihrer Mutter sein, nachdem er sie am Abend zuvor mit dem fertigen Essen so lange hatte warten lassen und sich so verspätet hatte. Aber daß sie die Lebensmittel einfach verkommen ließ …
    Am Abend zuvor? War es nicht der vorletzte gewesen? Hatte er nicht einen Tag im Haus verschlafen? Seine zeitliche Orientierung war aus den Fugen geraten. Und warum hatte Tessa keine Hilfe geholt, nachdem sie ihn besinnungslos auf dem Bett gefunden hatte?
    Er schüttelte den Kopf und bemühte sich, zielsicher auszuschreiten. Er mußte sich unbedingt etwas Eßbares besorgen; sein Magen revoltierte schon, weil er seit fast zwei Tagen nichts mehr zu sich genommen hatte.
    Auf der Straße verharrte er einen Augenblick lang. Hatte er sich in der Zeit geirrt? Sicher, im Sommer wurde es hier schon gegen fünf Uhr in der Frühe hell. Schlief die Stadt etwa noch? Aber wo blieb dann das Gezwitscher der Vögel, das ihn jeden Morgen weckte?
    Träumte er? Ach was! Dennoch kniff Kendrick sich in den Arm. Er spürte den Schmerz überdeutlich.
    »Mal sehen«, sagte er halblaut zu sich selbst. Kurzentschlossen drückte er an der nächsten Haustür die Klingel.
    Nichts. Nicht das geringste Geräusch. Jeder mechanische oder elektrische Prozeß schien genauso ausgestorben wie die Stadt selbst. Er sah durch ein geschlossenes Fenster, drückte sein Gesicht ganz nah an die Scheibe. In dem dahinterliegenden Raum regte sich nichts.
    Er wandte sich um, ging zu dem kleinen Lebensmittelgeschäft, dessen Besitzer er seit Jahren kannte, einer seiner Patienten …
    Lebensmittelgeschäft? dachte er. Aber hatte es nicht schon vor Jahren schließen müssen, als die 7-11-Kette eine Filiale in Pine County eröffnete? Aber da war das Geschäft, und daneben die Baustelle, die er seit Tagen verfluchte. Auch sie lag totenstill da, obwohl die Bauarbeiter, die bereits um fünf Uhr mit ihren Preßlufthämmern die ganze Straße in Aufruhr versetzten, wegen ihrer Pünktlichkeit bekannt und bei den Anwohnern

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