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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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SF-Schriftsteller Philip Kindred Dick einen Schlaganfall. Er konnte sich zwar noch verständlich machen, erlitt aber bald darauf einen zweiten Anfall, der ihn im Koma versinken ließ. In einer Klinik wurde er an ein Lebenserhaltungssystem angeschlossen. Die Ärzte beobachteten ihn, konnten aber keine Gehirnaktivität mehr feststellen. Das Lebenserhaltungssystem wurde am 2. März 1982 um 8.20 Uhr abgeschaltet.«
    Der Archont schien schweigen zu wollen, seine Körperumrisse wurden durchsichtig, verschwammen vor einem dunklen Hintergrund, und er löste sich auf. Dahinter, das Licht wurde heller, erfüllte den Raum, wurde eine große Halle sichtbar, in der in Reihen angeordnet, dicht an dicht, viele Menschen saßen. Sie saßen dort in vollkommener Stille, die Körper in gebrochener Linie in die Stühle gedrückt und starrten ihn voller Aufmerksamkeit an. Sie schienen etwas von ihm zu erwarten. Er fühlte ein Bett unter sich, betastete das Stahlgestänge mit seinen Fingern. Neben und über sich sah er eine komplizierte Apparatur, die über verschiedene Kanülen und Schläuche aus durchsichtigem Plastik (durchströmt von verschiedenfarbigen Flüssigkeiten) mit seinem Körper verbunden war. Für ein Krankenhaus, für eine Intensivstation, war der Raum zu groß, zu leer – und die still dasitzenden Menschen, die ihn unentwegt anstierten, paßten nicht ins Bild. Verwirrung kam ihm.
    In welche Welt, in wessen Welt bin ich hier hineingeraten, fragte er sich.
    Die Gedanken nach der Wirklichkeit, jenem uferlosen Fluß von Informationen und Erfahrungen, von Theorien und angesammelten Artefakten, bedrängten ihn mit der gleichen Intensität, mit der er sein Leben lang über das Wesen der Realität nachgedacht hatte. Er richtete sich mühsam auf und spürte, wie die Wasser in ihm abstürzten. Schwindel war in seinem Kopf; er sank über seine ausgestreckten Beine und hielt sich krampfhaft am Bett fest. Die Menschen um ihn atmeten, gelegentlich räusperte sich jemand, versuchte ein anderer einen Hustenreiz niederzuzwingen. Wieder ein anderer belferte erschrocken auf. Die Geräusche wirkten unwirklich, schienen sich allein auf ihn zu konzentrieren. Befand er sich vor dem jüngsten Gericht? Aber die Leute sahen fürchterlich normal aus, die zusammengewürfelte Auswahl aus einer großstädtischen Bevölkerung, wie bei einer Theateraufführung.
    An einer anderen Stelle des Raumes saßen welche, die hielten Instrumente in den Händen, starrten verbissen auf Notenständer. Lautsprecher hingen von der Decke.
    Er zog die Plastikschläuche aus den Kanülen, schloß Ventile und nabelte sich sorgfältig von der Apparatur ab.
    War er in der Überwelt, der Unterwelt? Oder gar in jener letztendlichen Realität, jenem Grund allen Seins, hinter dem es keinen weiteren Grund mehr gibt? Umgab ihn der ultimative Kosmos, ein dem Fegefeuer gleichender Zustand von Materie, in dem abgewartet wurde, was mit seinen Erfahrungen, mit seinem Werk, verfügt wurde? Jedenfalls schien er noch nicht vergessen.
    Er richtete seinen Blick auf die ihm am nächsten sitzenden Zuschauer, sah ihnen in die Augen. Die Menschen wichen seinem Blick aus. Nur ein älterer Herr mit einem Albert Schweitzer-Schnauzbart und vorquellenden Augen sah ihn starr an. Das ist eine Maske, hinter der sich jemand verbirgt, den ich kennen muß, dachte Phil. Das Gesicht kommt mir vage bekannt vor, wie einen die Erinnerung quält, wenn ein Gesicht aus der Menge der auf einer belebten Straße entlangschlendernden Menschen einen zusammenzucken läßt. Es ist ein böses Gesicht, ein Gesicht, vor dem ich Angst habe, das Gesicht eines mächtigen Mannes. »Welches Datum haben wir heute?« fragte Phil den Herrn. Der Herr lachte laut auf, erhob sich von seinem Stuhl und ging auf ihn zu.
    »Was für eine unsinnige Frage, Philip K. Dick. Eine Frage, die ich von dir nicht erwartet hätte. Dein ganzes Leben lang hast du dich über die Bedingungen von Raum und Zeit hinweggesetzt, hast du dir eigene Welten voller Künstlichkeit und Schrecken zusammengebastelt, und jetzt willst du von mir, ausgerechnet von mir, das Datum des heutigen Tages wissen. Erinnere dich doch bitte an deine eigenen Äußerungen. 1980 sagtest du in einem Interview:
    ›Die größte Macht, die ein Mensch auf andere ausüben kann, liegt in der Beherrschung ihrer Wahrnehmung der Realität und in der Einwirkung auf die Integrität und die Individualität ihrer Welt.‹ [10] Hitler hat den Deutschen die Wahrnehmung der Realität, wie er sie

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