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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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sich flüsternd bedankt. Es war traurig, dachte der Doktor, stemmte sich vom Schreibtisch hoch und blickte auf die Uhr – er wurde in weniger als zehn Minuten im Großen Empfangssaal erwartet –, es war traurig, und er fühlte sich ohnmächtig, als ob irgendwie er es gewesen wäre, der versagt hatte. Die leere Schüssel, verklebt mit Joghurt und Kleieresten, stand neben seinen Notizen auf dem Schreibtisch, und während er hineinstarrte, überkam ihn eine unsägliche Erschöpfung. Wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich dem bevorstehenden Vortrag nicht gewachsen, und diese Erkenntnis entzündete einen kleinen Funken der Beunruhigung in ihm. Hier stand er, der Messias der Gesundheit, eine Säule der Kraft, ein Mann, der sich seiner Hingabe und Unermüdlichkeit rühmte, und er sah sich nicht in der Lage, aufs Podium zu steigen – und wer würde das Evangelium verkünden, wer würde die Rasse verbessern, wenn er strauchelte?
    Jedenfalls sollte er verdammt sein, dieser George. Er war eine Heimsuchung, eine wandelnde Heimsuchung. Selbst jetzt, während sich das Publikum versammelte, um ihm zuzuhören, konnte der Doktor das Bild des Jungen nicht abschütteln, ein Bild, das über die Jahre zurückschrumpfte bis zu jenem ersten Winter, den George im Schoß der Kellogg-Familie verbracht hatte. Damals war er sieben gewesen – ein bezauberndes und einnehmendes Alter bei Kindern, eine Zeit zwischen Unschuld und Vernunft, eine Zeit, in der sie zum erstenmal aufgeschlossen sind für das Sakrament des Lebens und seine mannigfaltigen Freuden. Das heißt, die meisten Kinder; George war anders. George hatte sich überhaupt nicht verändert, soweit der Doktor sehen konnte. Schlurfend, krumm, mit hängendem Kopf latschte er im Haus herum wie ein kleiner Taubstummer, sprach weder von sich aus, noch wenn er zu einer Antwort aufgefordert wurde. Nahezu ein Jahr war vergangen, seitdem er zu ihnen gekommen war, und er war so widerspenstig und verschlossen wie eh und je. Und wenn die Lektion mit der Jacke seinen Starrsinn, seine Sturheit, seine Mißachtung von Vernunft und menschlichem Mitgefühl unter Beweis gestellt hatte, so hatte das Herannahen von Weihnachten diese Haltung – der Doktor erinnerte sich lebhaft daran – noch vertieft, Haß und Auflehnung in ihm geschmiedet, bis sie wie Edelsteine funkelten.
    An jenem Weihnachten waren zwanzig Kinder im Alter zwischen drei und achtzehn im Haus. Die Rodriguez-Jungen, die bereits fließend englisch sprachen, erzielten hervorragende Noten in der Schule; Lucy DuPlage, damals zwölf, legte eine echte Begabung für das Klavier an den Tag; Nathaniel Hirnes, der sich von seinen Verbrennungen vollständig erholt hatte, tat sich im Schreinern, Schachspiel und im Fußbodenwachsen hervor; und Rebecca Biehn, immer einer von des Doktors Lieblingen, hatte mit fünf eine der engelhaftesten Sopranstimmen, die man je gehört hatte. An manchen Abenden ging der Doktor, bevor er sich schlafen legte, auf Zehenspitzen zum Kinderschlafsaal, horchte auf ihr leises Ein- und Ausatmen und sah in ihre unbekümmerten Gesichter, wie sie dalagen, eingehüllt in ihre Träume, und diese Erfahrung beruhigte ihn nachhaltiger als jedes Sedativ, das die Apotheker und Pillendreher je hoffen konnten zu kreieren. Im großen und ganzen waren es gute Kinder, eine verdienstvolle und dankbare Gruppe, und sie wußten es ausgesprochen zu schätzen, was der Doktor und seine Frau für sie taten. Und als Weihnachten näherrückte, beschloß der Doktor, wiewohl seine Tage ausgefüllt waren wie immer, daß sie eine Belohnung bekommen sollten.
    Da waren zuerst einmal die kleinen Extras – Bonbons und ähnliches –, die sie erhielten, nachdem sie in der Sonntagsschule ihre Rollen im Weihnachtsspiel gespielt hatten. John Harvey Kellogg mißbilligte die Bonbons – Rohrzucker war kein Ersatz für Fruchtzucker, und natürlich enthielt der ganze Sack dieses nach Pfefferminz schmeckenden Zeugs nicht ein einziges Gramm Ballaststoffe –, aber er übte Nachsicht und ließ die Kinder mit den Geschenken der Lehrer machen, was sie wollten. Der Doktor und seine Frau hatten vor, jeweils eine Handvoll Walnüsse, einen Apfel, eine Orange und einen Riegel gesüßten hijiki in die Strümpfe der Kinder zu tun und für die jüngeren einen Hampelmann oder eine Stoffpuppe unter den Baum zu legen. Die älteren Kinder, von sieben an aufwärts, sollten gemäß ihrem Alter und ihrer Größe Kleidungsstücke erhalten. Und natürlich würden

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