Willkommen in Wellville
Tonne Decken gewickelt, vor dem Abendessen auf der Veranda ein Nickerchen machten, aber für Will war es ein Abenteuer. Vornübergebeugt, dürr wie eine Bohnenstange, einen Wollschal um den Hals geschlungen und die Hände tief in den Taschen vergraben, stapfte er in seinen Galoschen durch den Matsch wie ein Junge, der vorzeitig die Schule hat verlassen dürfen.
Während seines sechswöchigen Aufenthaltes hatte er das Sanatoriumsgelände bislang genau zweimal verlassen – an einem schönen kalten Nachmittag war er mit Eleanor in die Stadt gegangen, weil sie beim Schreibwarenhändler ein paar Dinge kaufen wollte, und Schwester Graves hatte für drei ausgewählte Patienten als vorweihnachtliche Lustbarkeit eine Fahrt mit dem offenen Schlitten organisiert. Der Spaziergang in die Stadt war eins der wenigen erfreulichen Erlebnisse gewesen, seitdem er hier angekommen war. Es war einfach ein Vergnügen gewesen, eine Offenbarung, der Geruch nach verbranntem Holz in der Luft, Kinder, die Fangen spielten, der Himmel, der sich bis in die höchsten ätherischen Höhen erstreckte – es war das Leben, so wie es gelebt werden sollte, das wirkliche Leben, nicht dieses trübselige Halbleben der Lachübungen und Sinusbäder. Leider konnte Eleanor sich nicht aufhalten – sie mußte innerhalb einer Stunde zurück sein für eine Abreibung mit Salzbrei und eine Dickdarmmassage –, und der Ausflug war viel zu schnell wieder beendet. Aber allein schon die Tatsache, daß er diese makellosen Korridore mit dem neutralen Geruch und dem ewigen Licht verlassen hatte, daß er den kritischen Blicken der korrekt und frömmlerisch biologisch Lebenden entkommen war, wenn auch nur für eine Stunde, sorgte dafür, daß Will sich wie neugeboren fühlte.
Das gleiche galt für den Ausflug mit Schwester Graves.
Will freute sich, freute sich ehrlich, daß auch er eingeladen war, in Anbetracht der Art und Weise, wie Irene ihn behandelt hatte seit der Nacht, als sie ihm bis in Eleanors Zimmer gefolgt war, einer Nacht, die Will unbedingt und auf der Stelle vergessen wollte. Wie sie sich ihm gegenüber verhielt, legte den Schluß nahe, er sei ein Kinderschänder, ein Bigamist oder so etwas Ähnliches. Kalt, streng, mechanisch, wortlos kam sie ihren Pflichten nach, und während die Tage vergingen, schien es Will, daß er immer häufiger Schwester Bloethal und immer seltener Irene zu Gesicht bekam – und es gab nichts, was er hätte tun oder sagen können, um sie umzustimmen. Eines Abends, als er seine Acht-Uhr-Milch bekam, nahm er das Glas aus ihren Händen entgegen, aber anstatt es sofort auszutrinken, stellte er es auf den Nachttisch. Irene regte sich auf. Er sah es daran, daß sie tadelnd Mund und Augen zusammenkniff – zuerst die Geschichte mit seiner Frau, und jetzt stellte er auch noch die Milch beiseite, als wollte er sein Spiel mit ihr treiben und sich über die Anordnungen seines Arztes lustig machen. »Schwester Graves – Irene –, was ist los?« flehte er, und weil er die Antwort kannte, weil er wußte, was der Vorfall für sie bedeutete, und weil alle Beweise gegen ihn sprachen, wurde er rot.
Sie wandte sich ab und machte sich unnötigerweise an der Ventilationshaube am Fenster zu schaffen. Sie wollte ihm nicht antworten. Er sah ihr eine Weile zu, als sie durchs Zimmer ging, den Rücken ihm zugewandt, und die Schwesterntracht schmiegte sich an ihre Hüften und ihren Hintern auf eine Weise, die ihn wundersamerweise erregte trotz seines ruinierten Magens, seines Versagens bei Eleanor und der Milch, die ihm aus allen Poren tropfte und sein Hirn tränkte, daß er kaum mehr einen klaren Gedanken fassen konnte. Ihre Ellbogen flogen, während sie Ordnung machte, und er bewunderte sie, bewunderte ihre runden Oberarme und die ruhige Stärke ihrer Schultern. »Irene«, würgte er heraus, rang um Worte, »hören Sie mich an … der Schein trügt bisweilen – zwischen Eleanor und mir ist nichts passiert, überhaupt nichts. Ich schwöre es.«
Sie wirbelte zu ihm herum, und der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war scharf wie die Schneide eines Schwerts. »Wenn ein Patient, für den ich verantwortlich bin, nicht gesund werden will« ,setzte sie an, und ihre Stimme bebte, so sehr strengte sie sich an, sie unter Kontrolle zu halten, »dann kann ich nichts dagegen tun. Nichts. Aber letztlich fällt das Scheitern auf mich zurück. Ich will nicht Ihren … Ihren Untergang auf dem Gewissen haben …« Sie sah weg. Will hörte, wie im Gang eine Bahre
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